Digital Leaders müssen vor allem eines sein: Mensch
Die meisten komplexen digitalen Kompetenzen, die Führungskräfte besitzen sollen, haben ihren Ursprung in tief menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Nur wird das leider vor lauter Digitalisierungspanik vergessen. Zeit für eine Erinnerung.
„Digital Leaders“ sollen sowohl selbst Vorreiter bei der Nutzung digitaler Medien sind als auch die Vision von digitaler Arbeitsweisen vorleben. Die Erwartungshaltung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten (Skills) sind enorm hoch: Gesprächs- und Verhandlungsführung gehört dazu, Kritikfähigkeit, Team- und Mitarbeiterführung und überhaupt funktionsübergreifende Kompetenzen (laut LinkedIn).
Kaum jemanden ist bislang aufgefallen, dass es an Menschlichkeit im Verhältnis Führungskraft/Beschäftigte fehlt.
Die im Grunde verständlichen Kompetenzen werden unter dem Zugzwang, Prozesse und Arbeitsweisen zu digitalisieren, bis ins Unkenntliche aufgeblasen. Das schreckt Führungskräfte ab, den Wandel aktiv zu gestalten. Bei genauerem Hinsehen allerdings handelt es sich um typisch menschliche Eigenschaften, die in der Arbeitswelt fast verloren gegangen scheinen — und die eine Führungskraft wieder hervorholen kann. Wenn sie denn eine moderne Führungskraft ist.
Besonders schade: Kaum jemanden ist das bislang aufgefallen. Es war nicht so wichtig. Entscheidend war, ob die Führungskraft die Kompetenz besitzt, Projekte durchzudrücken, ob sie kontrollieren und regulieren kann, alles im Blick hat, die Zügel fest in der Hand, starr im Handeln und Denken. Schließlich war es immer so und bislang ja auch erfolgreich. Das war einmal. Jetzt, da gravierende Umwälzungen in der Arbeitswelt im Gange sind, kriechen die Defizite aus den Büroräumen und Belegschaften sind mit neuen technologischen Herausforderungen konfrontiert. Gleichzeitig eröffnen sich neue Möglichkeiten, Arbeit zu gestalten (Homeoffice, verteilte Teams, flexibles Arbeiten). Vieles muss besprochen und neu aufgesetzt werden.
Plötzlich wird von Führungskräften verlangt, sich mit ihrem Team aktiv auseinanderzusetzen. Miteinander zu reden und einander zuhören, Dinge zusammen zu meistern, gemeinsam zu handeln, um individuelle Lösungen zu produzieren, Missverständnisse aufzulösen und Wissen zu verteilen. Dass diese Art der Interaktion nur selten im Hierarchiegefüge vieler Unternehmen vorhanden ist, rächt sich jetzt mehrfach.
Beschäftigte wünschen sich ein Vorbild in Zeiten des Wandels
Viele Beschäftigte wünschen sich ein Vorbild, jemanden mit Charisma, einer klaren Haltung und einem konkreten Ziel, jemanden, die oder der Orientierung gibt, ohne permanent alles zu regulieren und zu kontrollieren (Kienbaum/Stepstone Leadership Survey). Sie selbst stecken immerhin in einem Umbruch, in dem sie nicht alleine sein wollen und können. Sie denken mehr über ihre Rolle im Hamsterrad der Arbeitswelt nach und möchten einiges verändern. Dazu brauchen sie Unterstützung.
Für „Digital Leadership“ braucht es keine Neuerfindung des Rades. Es braucht eine Rückbesinnung auf menschliche Talente.
In der klassischen Führungskraft finden sie diese Unterstützung nicht. Die ist all zu oft mit sich selbst beschäftigt. Sie liest darüber, wie kompliziert Führung in Zeiten der Digitalisierung geworden ist und fürchtet sich vor Machtverlust und Lernaufwand. Sie zelebriert die Trägheit – unglücklicherweise auch ein menschliches „Talent“ –, die immer dann durchschlägt, wenn man sich lieber in der Gewohnheit als im Unbekannten tummelt, aus Furcht oder Sorge. Doch es besteht kein Grund zu glauben, führen könne nur, wer alles neu lernt. Sieht man sich die heute geforderten Führungskompetenzen der Digital Leaders genauer an, braucht es keine Neuerfindung des Rades. Es braucht eine Rückbesinnung auf menschliche Talente, so wie sie etwa William Craig formuliert hat. Craig ist Gründer und Chef von WebFX, einer Marketing-Agentur aus USA, die mehrfach als „Best Place to work“ in ihrem Bundesstaat ausgezeichnet wurde.
Neugier auf und Leidenschaft für Neues: Wenn im Team digitale Technologien genutzt werden oder das in Planung ist, sollte sich die Führungskraft damit auskennen. Beschäftigte möchten eine Anlaufstation bei Fragen haben.
Vertrauen schaffen: Das geht nur über Acht- und Aufmerksamkeit für das Umfeld. Die einen etwa lernen schnell mit dem neuen Tool umzugehen, andere brauchen mehr Unterstützung. Oder: In einer Situation ist ein Anruf besser als eine Mail. Entscheidungen können sehr individuell sein. Wer das Richtige zur richtigen Zeit tut, erntet Vertrauen.
Mut haben: Routinen aufzubrechen und flexibel zu sein erfordert Mut. Das Ziel vor Augen reicht aus, der Weg dahin muss nicht bereits fest vorgegeben sein. Wer das seinen Teammitgliedern vermittelt, löst auch bei ihnen kreative und mutige Ideen aus.
Fähigkeit zur klaren Kommunikation: Unnötige Missverständnisse sind Gift fürs Firmenklima und lassen sich beispielsweise durch die Differenzierung verhandelbarer und nicht verhandelbarer Entscheidungen vermeiden.
Interaktion: Feedback, die einzig erlaubte Routine. Sie garantiert, dass Fragen, Anregungen oder Unstimmigkeiten in kurzen Abständen angesprochen werden können. Nichts ist schlimmer, als wenn einem etwas auf der Seele liegt, man nicht weiter weiß oder unzufrieden ist.
Die vermeintlich neumodischen Soft Skills sind in Wahrheit menschliche Wesenskomponenten, die jeder besitzt, die unterschiedlich ausgeprägt sind, aber unvermeidbar, wenn mehrere zusammenarbeiten sollen. Aber klar ist auch: Das kann nicht jeder, zumindest nicht im beruflich-professionellen Arbeitsumfeld. Und wer es nicht kann, der sollte nicht führen.
Jeder Mensch kann kommunizieren. Aber nicht jedem gelingt Respekt, Wertschätzung, Kritikfähigkeit und Offenheit.
Umgekehrt heißt es aber auch, dass Führungskräfte heute nicht gleich bei dem Wust an geforderten Kompetenzen den Kopf in den Sand stecken sollen. Vielmehr sollten sie die Skills genauer in Augenschein nehmen und analysieren, ob sie bereit sind, grundsätzlich Vorhandenes positiv zu nutzen. Halte ich Kritik in meinem Job aus? Kann ich andere für ihren Job begeistern? Bin ich fähig, respektvoll zu kommunizieren? Bin ich aufgeschlossen und mutig genug, meine Pläne für Ideen Anderer zu überdenken? Das ist alles keine höhere Mathematik, verschwindet aber beim klassischen Führungsstil im Nebel von Erfolgsdruck und Kontrollwahn.
Auch Chefs sind nur Menschen
Gerade weil Menschen in Führungspositionen einem enormen Erfolgsdruck ausgesetzt sind, müssen sie sich in Zukunft noch mehr ihrer menschlichen Talente erinnern und einfordern, sie auch nutzen zu dürfen. „Lasst Führungskräfte Visionen entwickeln, unkonventionell sein, sie eine Haltung entwickeln, Mut aufbringen, Neues zu tun und das mit Leidenschaft und Überzeugung und gebt ihnen Zeit, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden“, möchte man den Geschäftsführern zurufen. „Nach unten“ gilt übrigens das Gleiche: Lasst sie mal machen. Ist die Stimmung im Team vertrauensvoll und wertschätzend, finden Führungskräfte eher den Mut, neue Ideen zu formulieren. Das ganze Team zieht mit und unterstützt im Umkehrschluss die Leitungsperson.
„Lasst Führungskräfte unkonventionell sein! Gebt ihnen Zeit, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden“, möchte man Geschäftsführern zurufen.
Oftmals mit Erfolg, unzählige Studien verweisen darauf, dass Vorgesetzte mit einem guten Draht zum Team das Firmenklima nachhaltig positiv beeinflussen. Beschäftigte sind zufriedener und engagiert, weniger krank und kündigen seltener, was gerade beim aktuellen Fachkräftemangel ein immenses Kriterium ist. Wenn am Ende Kassensturz ist, kommt dann auch nicht selten dabei heraus: Das Unternehmen ist wettbewerbsfähig und erfolgreich. Es spricht also wenig dagegen, als Mensch menschlich sein zu dürfen.