Wie flach dürfen Hierarchien sein?

Flachen Hierarchien werden dermaßen viele Heilsbringer-Qualitäten nachgesagt, dass traditionelle Führungskulturen wie ein Krankheitserreger für die Arbeit der Zukunft wirken. Doch sind sie wirklich ein Erfolgskriterium für die moderne Arbeitswelt – und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? 

Zufriedene, engagierte und kreative Mitarbeiter statt Arbeitsbienen und Befehlsempfänger – so in etwa wird der Status von Beschäftigten im Vergleich von neuer und alter Arbeitswelt dargestellt. Die Abschaffung klassischer Organisationsstrukturen und die Einführung so genannter flacher Hierarchien gilt vielen als Grundvoraussetzung für eine moderne Arbeitswelt, in der traditionelle Entscheidungskonzepte ein Synonym für Versklavung sind und flache Hierarchien Anarchie zum Erfolgsmodell stilisieren.

Wenn flache Hierarchien so toll sind, warum rudern so viele Firmen wieder zurück?

Flachen Hierarchien wird aus folgenden Gründen nachgesagt, Belegschaft wie Unternehmen gut zu tun:

  • Mitgestaltende und mit Verantwortung ausgestattete Beschäftigte sind motivierter und eigenverantwortlicher als solche, die von Chefs ihre Aufgaben vorgesetzt bekommen.
  • Erfolge als Gemeinschaftsleitung sind der Klebstoff, der das Team zusammenhält, zufrieden und engagiert macht. Die Lorbeeren bekommen alle, nicht nur der Chef.
  • Projekte werden „auf dem kurzen Dienstweg“ entschieden, was Prozesse effizienter und unkomplizierter macht: Denn Führungskräfte sind selten tief im Projekt und können oft nicht wirklich zur Lösung beitragen.
  • Führungskräfte sind icht in jede Entscheidung involviert und haben adurch mehr Zeit, etwa das Geschäftsmodell weiterzuentwickeln.
  • Die Personalkosten sinken, da man das mittlere Management nicht in der üblichen Breite benötigt.
  • Die Stimmung im Betrieb ist dank der engagierten und leidenschaftlichen Community inspirierend, gemeinschaftlich und wertschätzend – eine optimale Firmenkultur in der modernen Arbeitswelt.

Flache Hierarchien sind manchmal nur schöner Schein

Ganz schön viel Glitzer, was da an dem Konstrukt der flachen Hierarchien flattert. Warum aber haben dann manche Unternehmen genug vom schönen Schein und kehren zu traditionellen Führungsstrukturen und Top-down-Elementen zurück?

„Wir wollten ein besonderes Startup mit einer ungewöhnlichen Kultur sein, in der jeder seine Ziele verwirklichen konnte, um CareerFoundry groß zu machen. Wir sind gescheitert“, sagt etwa Raffaela Rein, die bis zum März dieses Jahres CEO des Startups war, das Onlinekurse für Webdesign und UX Design anbietet. Inzwischen hat sie das Unternehmen verlassen. Statt maximaler Freiheit stieg die Krankenrate, Projekte wurden nicht rechtzeitig fertig, beinahe hätte das Unternehmen dicht machen müssen. Erst als die Firma wieder Teamleiter und ein Senior-Gremium einsetzte, ging es wieder bergauf.

Bei CareerFoundry waren es die Nachteile flacher Hierarchien, die dominierten:

  • Es gab eine Schattenstruktur, in der die beliebten Kollegen mehr zu sagen hatten als andere und jene anderen sich nicht trauten, gegenüber den Firmen-Lieblingen ehrlich zu sein.
  • Manche waren mit der Verantwortung, die ihnen aufgrund fehlender Führungskräfte übertragen wurde oder die sie an sich reißen mussten, überfordert.
  • Teamstrukturen sind nicht beliebig skalierbar. Bei starkem Firmenwachstum kann das problematisch werden.
  • Bei diesem Startup kein akutes Problem, aber nicht minder häufig: Flache Hierarchien bremsten die Aufstiegschancen innerhalb des Betriebs aus.
  • Entscheidungswege werden durch epische Diskussionsrunden („Zu viele Köche verderben den Brei“) unnötig in die Länge gezogen.

Mehr als Schwarz und Weiß: Das Beste aus beiden Welten

Wenn Konzepte aufploppen, die Traditionelles in Frage stellen, springen Entweder-Oder-Enthusiasten in die erste Reihe – bloß um dann den Realisten den Vortritt zu lassen, denn wie immer gilt: Top-Down-Modelle bieten sich in einigen Bereichen genauso an wie Bottom-Up in anderen.

Führung im Rahmen von Spielräumen – so könnte die Organisationsstruktur der Zukunft aussehen.

Die Idee etwa, Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, ihnen Verantwortung zu übertragen und ihr Wissen zu nutzen, um Projekte voranzutreiben, passt zur derzeitigen Umbruchstimmung in der Arbeitswelt. Denn dort sorgen immer neue Technologien dafür, dass Workflow und Zukunft weniger planbar sind. Immer neue Teams in wechselnder Besetzung arbeiten sich etappenweise in Projekten vor, müssen kurzfristig Entscheidungen treffen und wieder hinterfragen. Arbeitende spüren, dass sie sich in dieser Arbeitswelt besser einbringen können und fordern dies zunehmend ein.

In Innovations-Laboren oder jungen Startups und kleinen Firmen etwa, in denen Ideen diskutiert und neue Modelle getestet werden müssen, um den eigenen Weg zu erkunden, lohnt es sich, „flach“ zu agieren.

Flache Hierarchien:

Aus dem Prinzip der Holokratie stammt etwa die Idee, Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, ihnen Verantwortung zu übertragen und agil das Wissen von Mitarbeitern zu nutzen, um Projekte voranzutreiben.

Die Gitter-Struktur (Lattice) stützt sich auf eine vernetzte Gesellschaft, die hierarchiefrei die Kraft des Schwarms nutzt und Fähigkeiten wie Kenntnisse als Gemeingut verwaltet.

Und beim Self-Management bringen Beschäftigte ihr Talent in die Gruppe ein und ziehen mit ihrer Leidenschaft andere mit, ihrerseits ihre Fähigkeiten zu offenbaren.

Im Gegensatz dazu: Wie wichtig Führung ist, zeigt sich besonders in Krisen. Wenn Geld verbrannt wird, weil Dinge fehlschlagen, ist es schwer, ein ganzes Team zur Verantwortung zu ziehen, weil es „niemand gewesen sein will“. Für Unternehmen kann das existenzbedrohend sein. Daran erkennen viele Firmen, dass es eben Bereiche wie die Budgethoheit gibt, die nicht als Teamleistung etabliert werden sollte. Auch in Projekten sollte letzten Endes eine/r den Hut aufhaben und sagen: „Wir brauchen diesen Prozess, darum kümmere ich mich jetzt“. Das können aber immer andere Teammitglieder sein. Auf den Spielraum kommt es an. Denn Freiräume entstehen erst durch eine geordnete Struktur, die (wenn auch flexibel) irgendjemand überblicken muss.

Blinder Aktionismus ist nicht angebracht

Unternehmen, die überlegen, sich dem Wandel in der Arbeitswelt auch in Sachen Organisationsstruktur anzupassen, sollten im Vorfeld klären: Wie sind die Entscheidungswege aktuell in den unterschiedlichen Abteilungen und Geschäftsbereichen? Ist die Struktur sinnvoll? Gibt es Aufgaben, die mit flachen Hierarchie-Konzepten besser gelöst werden könnten? Und was ist mit den klassischen Lohnkonzepten, die dann hinterfragt werden müssen und nicht mehr funktionieren, wenn alle Führungsaufgaben übernehmen?

Denn statt mit einem Mal klassische Formen abzuschaffen, um dann die vermeintlichen Freiheiten wieder einzuschränken, ist es sicherer, an einigen Stellen selbstorganisierte Mitarbeiter mit Spielräumen einzuführen und erst einmal daraus zu lernen.

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