Gestresste Arbeitnehmer – und was Digitalisierung damit zu tun hat

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann kommentiert den DGB-Index „Gute Arbeit 2018“ mit den Worten: Durch die Digitalisierung ist alles schlimmer geworden. Das arbeitgebernahe ifaa-Institut widerspricht und ist von ihren positiven Impulsen überzeugt. Was stimmt denn nun? 

Viele Arbeitnehmer sehen den digitalen Wandel kritisch. Statt Entlastung und Motivation – wie von den Digitalisierungs-Fans angepriesen – ist alles, was sie derzeit oftmals bekommen: noch mehr Stress. Und irgendwann musste von Seiten der Gewerkschaften diese Einschätzung kommen: „Seit Jahren sprechen wir von den Chancen der Digitalisierung. Doch offensichtlich kommen die Vorteile der technischen Veränderung bei vielen Beschäftigten nicht an. Im Gegenteil: Psychische Belastungen und Arbeitsstress haben durch den digitalen Wandel zugenommen.“

Die Digitalisierung verspricht ein Upgrade auf die Arbeitsqualität, doch davon spüren viele Beschäftigte nichts.

Obwohl der aktuelle DGB-Index in der Interaktion mit Kunden und anderen betriebsexternen Personengruppen einen dominierenden Stressfaktor für Beschäftigte resümiert, ist die Digitalisierung für DGB-Chef Hoffmann Teil des Problems, dass sich Beschäftigte gehetzt und unzufrieden fühlen. Dem arbeitgebernahen ifaa-Institut ist die Einschätzung zu einseitig. Prof. Sascha Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft, entnimmt dem Bericht ganz andere Erkenntnisse und will die Digitalisierung nicht als rein negative Entwicklung verstanden wissen. Sie biete „zahlreiche Chancen, die Arbeitswelt positiver zu gestalten“. Sind die Einschätzungen in Bezug auf den digitalen Wandel wirklich so schwarz-weiß – und wie geht es weiter?

In den Augen der Beschäftigten gefährdet die Digitalisierung ihren Job und raubt ihnen wichtige Arbeitszeit, die sie aus ihrer Sicht in Workshops und mit Lernprogrammen verplempern. Sie hören zwar von Vorteilen durch die Digitalisierung, lesen Begriffe wie Unternehmenskultur, Wertschätzung und Homeoffice, die Digitalisierung verspricht ein Upgrade auf die Arbeitsqualität, doch davon spüren sie nichts. Der DGB-Bericht nimmt ihnen dieses Gefühl nicht. Er hebt beispielsweise hervor, dass „auch in Zeiten der Digitalisierung ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland schwer körperlich arbeiten“. Will heißen: Wo bleiben denn die Versprechungen?

Das ifaa-Institut widerspricht dieser Darstellung. Im DGB-Bericht sei auch von vielen Chancen zu lesen, die sich positiv auf die Beschäftigten auswirkten, und sie empfänden das auch so. Dank der Digitalisierung sei eine flexible Arbeitsgestaltung möglich und 66 Prozent der Befragten fänden es gut, die eigene Arbeit selbstständig planen und einteilen zu können. Auch sage die Mehrheit, durch ihre Arbeit hätten sie die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln und würde Wertschätzung durch den Vorgesetzten erfahren.

Ohne Rahmenbedingungen und Digitalstrategie ist der Wandel eine Qual

Wo Arbeitsplätze schon digitalisiert werden profitieren die Mitarbeiter davon.

Was macht man nun mit einer Befragung von über 8.000 abhängig Beschäftigten und ihrer so unterschiedlichen Interpretation? Steht Aussage gegen Aussage? Nicht unbedingt. Wenn Hoffmann fordert: „Wir brauchen eine humane Arbeitsgestaltung“ und das ifaa-Institut sieht: „Die Digitalisierung ermöglicht eine Entlastung von mentalen Routinetätigkeiten, die Stressfaktor von zahlreichen Tätigkeiten sind“, dann liegen die Interessen nicht so weit auseinander. Dass sich durch die Digitalisierung Chancen und Möglichkeiten ergeben, heißt ja auch nicht, dass die auch genutzt würden und alles jetzt schon super wäre.

Beide Seiten rücken die Mitarbeiter in den Mittelpunkt und erkennen gleichzeitig an, dass der digitale Wandel eine Herausforderung für Unternehmen und Beschäftigte ist. Die Arbeitnehmerseite hat in dem letztjährigen DGB-Bericht bereits festgestellt, dass Beschäftigte von der Digitalisierung profitieren können, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sind. Und Stowasser sagt: „Digitalisierungsmaßnahmen müssen gut in den Betrieb eingeführt werden.“

Der Weg zwischen Theorie und Praxis muss definiert werden.

Das ist der Punkt. Zwischen Theorie und Praxis gibt es eben doch noch eine weitere Ebene, in der die Vorausetzungen geschaffen werden, um eine Entwicklung in die Realität umzusetzen. Es gibt Beispiele aus der Praxis, die zeigen, wie solche Rahmenbedingungen und Transformationsprozesse aussehen können. Porsche etabliert eine völlig neue Firmenkultur und entmystifiziert die Digitalisierung, indem sie den Mitarbeitern die Möglichkeit gibt, sich neue Technologien und Methoden zu erarbeiten. Otto-Mitarbeiter analysieren in Fuck-up-Nights ihre Fehler, wischen sich den Mund ab und machen weiter. Bei Siemens rücken Arbeitnehmer und Arbeitgeber näher zusammen als jemals zuvor, um die Beschäftigten auf dem Weg ins digitale Arbeitszeitalter mitzunehmen. Auch für den ADAC, Axel Springer und Continental ist klar, dass der digitale Wandel ohne sie nicht gelingen kann und sie alle erarbeiten praxisnahe Konzepte für die Transformation.

Bitte mehr Zeit, aber schnell!

Möglicherweise fangen Management und Mitarbeiter bei Null an. Warum eigentlich nicht?

Das dauert natürlich. Und im Moment tut Digitalisierung in vielen Bereichen weh, kostet Nerven, Zeit und Geld. Über Nacht kann eine neue Arbeitswelt nicht erschaffen werden. Von Homeoffice-Regelungen bis zur Erkenntnis, dass die digitale Transformation mit dem Einkippen neuer Technologien nicht gemacht ist: Es braucht eine Digitalstrategie und vor allem Arbeitgeber und Führungskräfte, die die digitale Transformation nicht einfach von ihren Mitarbeitern erwarten, sondern sie dafür fit machen und sie auch Fehler machen lassen. Entscheidend ist, dass Unternehmensleitungen ihre Vision überdenken, gegebenenfalls anpassen und sich Unterstützung holen (wofür unter anderem das ifaa aufgerufen ist, diese Chancen mit Leben zu füllen). Denn auch sie müssen lernen. Wahr ist aber auch: Sie müssen es jetzt tun.

Hoffmanns Forderung nach einer menschenzentrierten Arbeitsgestaltung ist einerseits berechtigt. Der Mann ist schließlich Arbeitnehmervertreter. Andererseits können Aussage wie „Die Digitalisierung macht alles schlimmer“ bei dem Wandel zugewandten Mitarbeitern überwundene Zweifel wieder aufkeimen lassen. Sinnvoll wäre es, Mitarbeiter zu motivieren, Neues auszuprobieren und einzufordern, den Wandel aktiv mitgestalten zu wollen. Dass das einfach wird, hat niemand gesagt.

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Ein Kommentar

  1. Hallo,
    Beispiele aus meiner Berufspraxis zur Digitalisierung? Kein Problem, meine Veipspiele stammen aus dem Bildungsbereich:
    1. Vorher: es wurden Akten geführt. Wann mann neue Akten für neues Personal anlegte und wann man was dazu erledigte, wie man sie führte, was den Einzelnen weitgehend überlassen. Dass das anvisierte Timing (Datenerhebung/Anamnese, Zeilvereinbarungen usw.) , nicht einhaltbar war, wenn eine Person z. B. lange durch Krankheit ausfiel, war allgemein bekannt, Vorgesetzte wußten das.
    Nachher: die digitale Akte wurde eingeführt. Wohlgemerkt, parallel zur Handakte, also doppelter Aufwand. Woher man die Zeit dafür nahm? Wohlgemerkt: die digitae Akte anzulegen war ein vielfacher Aufwand gegenüber der Handakte. So mußte nun z. B. zum Ausbildungsplan eine Jahresaufstellung über alle Arebitstage der nächsten 12 Monate erfolgen. Tage im Betrieb, Berufsschultage, Tag beim Bildungsträger, Lehrgänge, Berufsschulferien, Urlaub, Gruppenaktivitäten usw. Dass der Jahresurlaub erst in ca. 8-10 Monaten frühestens bekannt wurde, dass Lehrgänge bestenfalls 4 Wochen vorher bekannt gegeben wurden, egal. Dass die Vorgabe für die Anamnese nicht einhaltbar war bei Ausfall durch Krankheit, solche Dinge waren vorher den Vorgesetzten bekann und niemand machte den Mitarbeitern Vorwürfe, wenn das Timing nicht klappte. Doch nun gab ein Programm starre Terminvorgaben, die einzuhalten waren. Wenn etwas nicht funktionierte (was bei Jugendlichen in einem Förderprgramm etwas häufiger der Fall ist), das war nicht vorgesehen, es erfolgte eine Mängelmitteilung über eine nicht eingehaltene Frist. Natürlich als Einwegkommunikation, Rückmeldungen wurden gar nocht beachtet. Beim nächsten QM Audit wiederholte sich das Ganze. Warum etwas gar nicht machbar war, wollte niemand hören, es wurden nur Mängel festgestellt. Mit der gleichen Sturheit von Programmen gaben sich Vorgesetzte und Auditor nur noch als Fehlerfeststeller, Gründe und Ursachen waren nicht ihr Thema.
    Kurzum: die Arbeit wurde maschinisiert, den Menschen brutal übergestülpt. Und zudem wurden nun enorme Mengen an Dokumentationen verlangt, die immer mehr der Arbeitszeit verbrauchten. Einer der Empfänger (ein Berufsberater) fragte mich, wann der diese endlosen Seiten lesen soll. Er hat sie abgespeichert, das war’s. Jeden Tag hat man so stundenlang völlig sinnfrei gearbeitet. Und das war noch ganz am Anfang der Digitalisierung.
    Freundliche Grüße
    Erwin Fileschi

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