Digitalisierung bei Siemens: Teamwork von Konzern, Betriebsrat und Gewerkschaft

Als Siemens-Chef Joe Kaeser die „Vision 2020“ präsentierte, fragte man sich: Und was ist mit der internen digitalen Transformation? Letztere verfolgt der Konzern mit genauso viel Nachdruck und hat sich auf eine einzigartige Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern verständigt.

Während die „Vision 2020“ im August dieses Jahres mit ordentlich Tamtam nach außen getragen wurde und der Vorstandsvorsitzende des Siemens-Konzerns Joe Kaeser die Themen Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung als eine Art Zukunftsprofil für das Unternehmen präsentierte, blieb es bei der Frage um den digitalen Wandel nach innen verhältnismäßig ruhig. Dass es für eine Vision mit Außenwirkung aber auch intern frischen Wind braucht weiß jeder, der sich mit der digitalen Transformation beschäftigt. Denn nach außen kann man Aufbruch nur authentisch verkaufen, wenn von der Führungsetage bis zum einfachen Arbeiter alle den Wandel mittragen.

Ob man den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Kaeser mit der Vision 2020 und dem Zukunftspakt Genialität (Ingenuity) bescheinigen kann, wird sich zeigen. (Quelle: Siemens)

Tatsächlich hat Siemens bereits vor der Präsentation der Vision 2020 die interne Maschinerie angeworfen und eine Vereinbarung mit dem Gesamtbetriebsrat und der IG Metall getroffen. Sie kann vielleicht Vorbild sein für andere Konzerne, die die Mitgestaltung von Belegschaft und Arbeitnehmervertretern bei der digitalen Transformation bisher als nicht so wichtig ansehen. Der „Zukunftspakt“ gibt die Rahmenbedingungen vor, die alle Beteiligten einhalten wollen, um auf die Auswirkungen globaler Trends wie Digitalisierung, Globalisierung, demografischer Wandel oder Gesellschaft zu reagieren. Und es ist ein Beispiel dafür, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammenraufen können, um Dinge auf den Weg zu bringen, die auf den ersten Blick aufgrund vieler widerstrebender Interessen unmöglich erscheinen. Eine derart proaktive Zusammenarbeit hat es in der Geschichte der IG Metall noch nicht gegeben, bestätigte ein Gewerkschaftsvertreter gegenüber Business User.

Betriebsrat und Gewerkschaft sollen bei Digitalprojekten aktiver werden

Die Vereinbarung sieht vor, dass Unternehmen und Arbeitnehmervertreter die Verantwortung gemeinsam dafür tragen, die Beschäftigten fit für die Zukunft zu machen. Damit soll einmal die Vision 2020+ ein tragfähiges Fundament bekommen. Zum anderen soll erreicht werden, dass trotz vieler Veränderungen und Maßnahmen so viele Jobs viele möglich erhalten bleiben. Dafür haben sich die Parteien zu Transparenz verpflichtet, um kritische Situationen schneller erkennen und gemeinsam beraten zu können. Nicht nur Siemens muss investieren, auch Betriebsrat und Gewerkschaft sollen sich deutlicher einbringen müssen und beispielsweise Digitalprojekte aktiv mitgestalten.

Dass sich der Betriebsrat auf seine Position als Hüter personenbezogener Daten zurückzuziehe, reiche nicht aus, sagt auch Jürgen Dispan, Mitautor der Studie „Digitalisierung und Unternehmensstrategie“, die das IMU Institut im Auftrag der IG Metall mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung und des Siemens-Gesamtbetriebsrates durchgeführt hat. Demnach mischen sich Betriebsräte noch zu wenig in die Digitalisierung ein – obwohl es genug Baustellen gibt. Die Digitalisierung wirke sich auf alle Beschäftigungsbereiche aus, von einfachen Tätigkeiten in Produktion, Lager und Logistik bis hin zu administrativen Aufgaben, die dann selbst höher Qualifizierte an digitale Lösungen abgeben werden, lautet ein Ergebnis der Evaluierung.

Genug Möglichkeiten der Gestaltung also, angefangen von einer eigenen Digitalstrategie des Betriebsrates über standortübergreifende Betriebsrats-Communities, die die Mitbestimmung vereinfachen, bis hin zur konkreten Weiterentwicklung sich verändernder Arbeitsbedingungen durch die Automatisierung, so die Studie.

Siemens versteht sich als „lernende Organisation“

Schon heute und auch in Zukunft sollen Konzern und Arbeitnehmervertreter gemeinsam an Themen wie der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern oder dem ergebnisoffenen Umgang mit etablierten Strukturen und Prozessen arbeiten. Auf Konzernseite will man dafür Freiräume schaffen, die den Wissentransfer ermöglichen. Ein Siemens-Sprecher sagte gegenüber Business User: „Wir wollen Siemens als ‚lernende Organisation‘ weiterentwickeln und im Sinne unserer ‚Ownership Culture‘ individuelles, Mitarbeiter-zentriertes Lernen sowie selbstbestimmte berufliche Wege (Own Your Career) ermöglichen.“ Dafür will der Siemens-Konzern große Summen investieren. Der Zukunftspakt sieht für die nächsten vier Jahre einen Zukunftsfonds mit 100 Millionen Euro zur Investition in Qualifizierungsprojekte vor, „mittels derer wir den Strukturwandel proaktiv begleiten wollen“.

Beim „Futureland“-Event können Mitarbeiter ihre Innovationen zeigen

Einige Projekte laufen bereits, um vor allem durch die Digitlisierung bedrohte Jobs zu halten und Mitarbeiter weiterzubilden sowie (auch in ihrem eigenen Sinne) optimal einzusetzen. So arbeiten beispielsweise laut Siemens zunehmend interdisziplinäre Teams in agilen Arbeitsumgebungen zusammen, damit Produkte schneller entwickelt und Prozesse effektiver abgestimmt werden können. Darüber hinaus fördert der Konzern mitarbeitergetriebene Innovationen auf Events wie dem „Futureland“, an dem weltweit zuletzt 5.000 Mitarbeiter teilgenommen haben.

Agil und ein Baustein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, auch das: Der Siemens-Standort Mülheim ist Teil eines vom Betriebsrat unterstützten Mitarbeiteraustausch-Programms. Dank Vereinbarungen mit mehreren Unternehmen in der Region werden Beschäftigte an andere Betriebe ausgeliehen. Das hat einmal den Effekt, dass sie bei zeitweisem Auftragsrückgang nicht entlassen werden müssen. Viel wichtiger aber: Fallen durch die Digitalisierung Aufgaben weg und sind die Mitarbeiter nicht mehr ausgelastet, können sie an anderer Stelle ihre Kompetenz einbringen.

10.000 neue Stellen bis 2020

Hinzu kommt, dass Siemens auch seine Kunden künftig bei der digitalen Transformation begleiten und zum Beispiel Lösungen für das Internet der Dinge für sie ausarbeiten will. Bis 2025 sollen dadurch bis zu 10.000 neue Stellen entstehen.

Beschäftige sollen bei Siemens in Zukunft mehr im Vordergrund stehen. (Quelle: Siemens)

Doch nicht nur Mitarbeiter, auch Führungskräfte müssten auf die digitale Transformation eingeschworen und dafür trainiert werden. Dazu erklärt Siemens, die Rolle der Führungskraft habe man mit dem Programm „Leadership in a digital age“ im Blick. In diesem Kontext bietet der Konzern Teamverantwortlichen beispielsweise die Weiterbildung zum „Coach“ oder „Entrepreneur“ an, um das eigene Team ins digitale Zeitalter mitzunehmen.

Auch wenn vieles bisher lediglich angeschubst und auf den Weg gebracht worden ist: die Transformation im Innern hat bei Siemens begonnen. Sie mag etwas träger daherkommen als bei anderen deutschen Unternehmen wie Otto oder Porsche – so ist Siemens eben. Doch genauso wie andere Konzerne im Wandel hat der deutsche Technikpionier erkannt, dass es durchaus sinnvoll ist, die Beschäftigten mehr in den Vordergrund zu stellen, ihre „Skills“ weiterzuentwickeln und ihnen zuzuhören.

Der Zukunftspakt bildet ein Gegengewicht zur unternehmerischen Vision 2020, die vor allem auf neue Wachstumsfelder, der Stärkung des Kerngeschäfts und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist. Wie sich die proaktive Vereinbarung in Zukunft auswirkt, bleibt abzuwarten. Sie ist im Mai 2018 in Kraft getreten und kann frühestens in vier Jahren gekündigt oder erneuert werden.

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2 Kommentare

  1. Hallo,
    mir scheint, es gibt hier eine unglückliche Formulierung. Im Abschnitt „Betriebsrat und Gewerkschaft sollen bei Digitalprojekten aktiver werden“ steht der Satz: „Zum anderen soll verhindert werden, dass trotz vieler Veränderungen und Maßnahmen so viele Jobs viele möglich erhalten bleiben.“. Sollte hier nicht statt „verhindert“ z.B. „bewirkt“ stehen? Aktuell liest sich der Satz für mich wie: „…verhindern, dass Jobs erhalten bleiben“.

    BG

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