Motivation statt Fachkenntnisse: Personalsuche in Zeiten des Fachkräftemangels

Philipp Leipold, Geschäftsführer des Personaldienstleisters Academy, schwört auf motivationsbasiertes Recruiting, damit Quereinsteiger eine Chance und Unternehmen die dringend benötigten Fachkräfte bekommen. Aber was ist das genau?

„Personaler sollten auch Quereinsteiger mit flexiblen Karrieren in ihre Überlegungen miteinbeziehen“, sagt Academy-Geschäftsführer Philipp Leipold.

In einer Zeit, in der Fachkräfte für die Digitalisierung fehlen, müssen Unternehmen über den Tellerrand blicken – und das schnell. Kommen demnach auch Bewerber ohne Idealprofil in Frage? Academy beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Zusammen mit Firmen, die den Bewerbermarkt bislang erfolglos abgegrast haben, entwickelt die „Schule für Erwachsene“, wie sich Academy nennt, unternehmensspezifische Intensivkurse für Quereinsteiger. Am Ende des 12-wöchigen Trainings (und einem Abschluss) steht die Jobgarantie beim jeweiligen Unternehmen.

Die Kursteilnehmer werden dabei nicht nach bisherigen Qualifikationen ausgewählt, sondern unabhängig vom bisherigen Werdegang, dazu anonym und auf der Grundlage eines so genannten motivationsbasierten Recruiting-Prozesses. Was das ist, erklärt Academy-Geschäftsführer Philipp Leipold. Im Interview mit Business User erläutert er außerdem, warum es so wichtig ist, dass Unternehmen motivierte Kandidaten zu finden, und wie Bewerber zeigen können, dass sie für den ausgeschriebenen Job „brennen“.

Business User: Vor etwa Jahr haben Sie in einem XING-Artikel Arbeitgeber dazu aufgerufen, sich jetzt auf die geänderten Rahmenbedingungen einzustellen, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Wie ist ihr Eindruck im Frühjahr 2019? Haben sich Personalabteilungen weitergebildet und sind sie fit für Recruiting-Prozesse im digitalen Zeitalter?  

Philipp Leipold: Es passiert, aber immer noch nicht schnell genug. Es besteht ein riesiger Bedarf an Fachkräften und der Entwicklung neuer Jobprofile, doch viele Personalabteilungen kommen nicht hinterher. Auch das obere Management trägt eine Verantwortung, Human-Ressources-Teams besser auszustatten und sie bei diesem radikalen Wandel zu unterstützen. Der Mensch ist die wichtigste Ressource eines Unternehmens, doch in vielen Firmen dominiert nach wie vor die Vorstellung: „Die sollen doch froh sein, dass sie hier arbeiten dürfen!“ Diese Denke ist eigentlich total überholt.

Ich sage das, weil immer noch zu wenige Arbeitgeber – und Arbeitnehmer – verstanden haben, dass bisher gängige Tätigkeiten verschwinden werden. Sie sind nicht darauf eingestellt. Bewerber verkaufen sich daher schlecht oder Firmen finden aufgrund herkömmlicher Vorgehensweisen keine interessanten Kandidaten. Nehmen Sie die automatisierten Kassensysteme bei REWE oder Aufgaben in der Juristerei. Viel von der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant wird heute schon von KI-Systemen (Künstliche Intelligenz) unterstützt und manche Fallbewertungen basieren ebenfalls auf mit der Gesetzgebung vertrauten intelligenten Software-Systemen. Die Mitarbeiter, deren Ausbildung auf solche Aufgaben zielte, haben ja jetzt nicht plötzlich überhaupt keine Qualitäten mehr, sondern können für Betriebe an anderer Stelle und mit der Bereitschaft zu lernen überaus wertvoll sein. Ganz zu schweigen von der umfassenden praktischen Erfahrung in dem entsprechenden Umfeld.

„Wir treiben auf ganz neue Karrieremuster zu, die klassisches Matching nicht mehr abbilden kann.“

Was genau bedeutet motivationsbasiertes Recruiting? Und warum ist Motivation ein so wichtiges Kriterium in der heutigen Zeit? 

Statt ausschließlich auf Zeugnisse, Zertifikate, Qualifikationen und bisherige Tätigkeiten zu schauen, müssen Unternehmen heute umdenken. Gerade jetzt, da überall Fachkräfte fehlen, sollten Personaler auch Quereinsteiger mit flexiblen Karrieren in ihre Überlegungen miteinbeziehen. Und das sollte nicht als Notnagel verstanden werden. Im Gegenteil: Quereinsteiger entsprechen zwar vielleicht nicht der Idealvorstellung, sind aber ungemein wertvoll, denn sie beweisen mit ihrem Lebenslauf, dass sie sich auf neue Dinge einlassen wollen, neugierig sind, und bringen so auch eine große Portion Erfahrung in verschiedenen Gebieten mit. Und sie sind es gewohnt, ein Leben lang immer dazu zu lernen.

Wie macht ein Unternehmen klar, dass er auf Motivation mehr Wert legt als auf Zeugnisse?

Die Unternehmen sind hier noch zu passiv. Es gibt noch zu viele klassische Stellenanzeigen, die ein Idealprofil beschreiben, das es immer seltener gibt. Wir treiben auf ganz neue Karrieremuster zu, die klassisches Matching nicht mehr abbilden kann. Tätigkeits- und Anforderungsprofile ändern sich rasant schnell, die Halbwertzeit von Wissen wird immer kürzer, von Arbeitenden wird lebenslanges Lernen verlangt, das sie irgendwie realisieren müssen. Und weil das nur gelingt, wenn sie nicht von vorherein auf ein Profil hinarbeiten, erleben wir Multikarrieren mit ganz disruptiven Lebensläufen. Mit denen kann niemand bei klassischen Stellenanzeigen punkten. Besonders auffällig ist das aktuell bei Bewerberinnen. Wir haben die Erfahrung gemacht: Wenn Frauen ein oder zwei Profilanforderungen nicht mitbringen, bewerben sie sich gar nicht. Männer blenden das aus und gehen nach dem Motto vor: „Ach, ich stelle mich einfach mal vor, den Rest bekomme ich schon hin.“ Das ist plakativ formuliert, aber unser Erfolg gibt uns recht.

„Motivation oder Engagement – Wir dürfen uns nicht in semantischer Hilflosigkeit verheddern.“

Für Recruiting-Prozesse ist das eine ungute Entwicklung, denn Bewerberinnen und Bewerber haben vielleicht das Potenzial und die Motivation, den Job hervorragend zu machen. Das zu beweisen, dazu bekommen sie oftmals nicht die Chance. Die Recruitung-Prozesse müssen ganz dringend angepasst werden. Sie sollten anonym sein, Name, Alter, Geschlecht sollte keine Rolle spielen. Heutzutage ist es aber noch das Gegenteil: Immer noch sind ein Foto sowie das Geburtsdatum Standard.

Öffnen Unternehmen Jobs/Aufgaben heute schon so, dass sie mit Motivation und Kreativität zu bewältigen sind, weil den Aufgaben der starre Rahmen absichtlich fehlt?

Viele Positionen könnte man in der Stellebeschreibung deutlich erweitern. Manche Berufe sind speziell, da geht das nicht, aber die meisten ließen mehr Spielraum zu.

Was ist der Unterschied zwischen Motivation und Engagement?

Ich denke, Motivation kommt vor Engagement. Doch wir verheddern uns hier in einer Art semantischer Hilflosigkeit, Charaktereigenschaften in die richtigen Begriffe und Worte zu gießen. Wenn Unternehmen von Engagement reden, denken sie an positive und nachhaltige Ergebnisse. Firmenlenker sind keine Gutmenschen – sie wollen engagierte Mitarbeiter genau aus diesem Grund. Das braucht man ihnen nicht übel zu nehmen, aber Bewerber und Mitarbeiter sollten es im Hinterkopf haben.

Die Motivation für einen Job kommt von jedem selbst. Und Unternehmen verstehen das langsam. Siemens beispielsweise lässt Mitarbeiter ziehen, wenn diese sich neue Herausforderungen suchen. Der Konzern öffnet seine Tür aber gern für Rückkehrer. Das ist ein Zeichen von Respekt und motiviert gegebenenfalls, bei einem passenden Angebot erneut anzuheuern. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. Wer ging, brauchte nicht mehr an die Tür zu klopfen.

Von Unternehmen wird hier Demut verlangt im Sinne von: Ich habe Verständnis dafür, dass er oder sie sich gerade anderswo weiterentwickeln möchte. Man könnte hier von Ambiguitätstoleranz sprechen (der Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zu ertragen und positiv statt negativ zu bewerten, die Red.). Das Machtgefüge bei Einstellungen verschiebt sich derzeit zugunsten der Arbeitnehmer. Die sollten das erkennen und nutzen.

„Initiativbewerbungen sind der beste Indikator für die Motivation eines Bewerbers.“

Wie zeigt der Bewerber, dass er motiviert ist?

Alleine schon dadurch, dass er oder sie sich auf eine Stelle bewirbt, die eigentlich kein 100-Prozent-Matching ist. Das erfordert nämlich Mut und das Gefühl beim Bewerber: Ich kann und möchte das schaffen. Oder nehmen Sie die Initiativbewerbung. Die gilt heute immer noch als Klasse-B-Bewerbung, dabei sind Initiativbewerbungen der beste Indikator für die Motivation eines Bewerbers, weil sie oder er denkt: Dort würde ich gerne arbeiten. Auch als Kandidat sollte man im Übrigen demütig sein. Wer im Bewerbungsgespräch die Information, weitere acht Bewerbungen am Laufen zu haben, nutzt, um ein horrendes Gehalt herauszuschlagen, gilt wahrscheinlich als wenig motiviert, für genau dieses Unternehmen zu arbeiten.

Ist motivationsbasiertes Recruiting der wichtigste Personalprozess für die Zukunft?

Auch das Recruiting entwickelt sich weiter, deshalb kann man das nicht pauschal sagen. Wir werden aber aktuell kaum eine andere Wahl haben, als Motivation viel stärker in den Einstellungsprozess miteinzubeziehen. Der Mensch ist per se neugierig und motiviert, neue Dinge zu lernen. Weder Personaler noch Fachkräfte sollten ihm diese Leidenschaft nehmen. Denn so entwickeln sich Menschen in viele Richtungen, was der Erweiterung des eigenen Horizonts dient und letztlich auch dem Unternehmen zugute kommt. Sowohl Unternehmen als auch Bewerber müssen teilweise ihre Überheblichkeit ablegen und viel mehr aufeinander eingehen. Nur ein Beispiel: Es gibt immer noch Unternehmen, die Kandidaten in den Social-Media-Kanälen anschreiben, weil sie einen gradlinigen Lebenslauf haben und wenn eben diese aktiv angesprochenen Bewerber beim Bewerbungsgespräch sitzen, werden sie gefragt „Warum willst du zu uns?“. Das ist absurd.

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