Führungskräfte sollten hin und wieder irrational denken – wenn sie es nur könnten
Führungskräfte treffen Entscheidungen. Weil sie logisch und rational denken können, haben sie es nach ganz oben geschafft. Aber sind in Zeiten rasanten Wandels solche Qualitäten noch die richtigen? Bräuchte es nicht mehr Intuition und Irrationalität? Ja, sagen Experten, ganz dringend sogar.
Mindestens die Hälfte (50 bis 60 Prozent) der Führungskräfte verfehlen die Strategien und Ziele, für die sie eineinhalb Jahre zuvor eingestellt wurden. Unternehmen geben Milliarden für Führungskräfteentwicklung aus, die am Ende nichts bringt? Die Zahlen des US-Meinungsforschungsinstitut Gallup weisen auf ein aktuelles Problem hin. Obwohl die Mitarbeiter im mittleren Management in der Regel Erfahrung haben, lange im Geschäft sind und „wissen, wie der Hase läuft“, und obwohl sie daran arbeiten, ihren Job gut zu machen, misslingt es häufig. Woran liegt das? Und wie lässt sich das ändern?
Führungskräfte treffen nur die Entscheidungen, die man von ihnen erwartet. In der heutigen unberechenbaren Wirtschaftswelt kann das gefährlich ineffektiv sein.
Bei einer Sache sind sich die Experten zumindest einig: Führen ist komplizierter geworden. Denn mit dem Wandel der Arbeitswelt verändert sich auch der Job der Führungskräfte sowie das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Eine moderne Unternehmenskultur fordert von den Führungskräften völlig neue Fähigkeiten. Und ihr Erfolg wird nicht mehr nur allein in finanziell messbaren Ergebnissen gemessen.
Das Ende der durchsetzungsstarken Führungskraft
Die meisten Führungskräfte werden aufgrund früherer Entscheidungen eingestellt. Sie haben vorherige Arbeitgeber nach vorne gebracht, können eine gute Bilanz ihrer Arbeit vorweisen und haben dem Unternehmen ordentlich Umsatz beschert. Den Kandidaten für die offene Stelle im Management werden klassische Managerqualitäten wie Know-how, Führungs- und Entscheidungsstärke bescheinigt von Menschen, die über ihnen stehen (wenn es sich etwa um eine Beförderung im Haus handelt). Dass sie von Mitarbeitern gemieden und hinter ihrem Rücken sich über sie beschwert wird (offen hätte das niemals jemand zugegeben!) – geschenkt!
Nicht selten haben sie es weit nach oben geschafft, weil sie zudem clever und charismatisch sind. Das ist per se nichts Schlechtes. Und doch: Selbstbewusste und selbstsichere Menschen können das: laut sein und sich in den Vordergrund schieben. Dass das nicht immer in effektiver und guter Führung mündet, hat eine Studie der American Psychological Association (APA) festgestellt. Einer der Autoren, Robert Hogan, sagt: Nur weil jemand Charisma und einen Führungs- oder Leitungstitel hat, führt er/sie nicht zwangsläufig genauso gut.
Auch weil solche Persönlichkeiten gern befördert werden in der Annahme, sie könnten mit ihrer Art auch Kollegen und Teammitglieder überzeugen, kommen möglicherweise Zahlen wie die von Gallup zustande, zum Beispiel auch die: in 82 Prozent der Fälle machen Unternehmen die falschen Mitarbeiter zu Managern. Hätten sie wirklich talentierte Personen ausgewählt, könnten sie 48 Prozent mehr Gewinn machen, zu 22 Prozent produktiver sein und ein 17 Prozent besseres Mitarbeiter-Engagement messen.
Wer das Zeug zur modernen Führungskraft hat, kommt auf die Art der „Führung“ an
Wer sind also die talentierten Führungskräfte, die ein Unternehmen in einem unsteten und volatilen Umfeld bereichern können?
Zum einen diejenigen, die erkannt haben, dass sich gerade alles sehr schnell ändert. Laut dem Change Readiness Index 2019 der Unternehmensberatung Staufen AG unterschätzen viele Führungskräfte das Tempo, in dem sich der Wandel vollzieht. Disruptive Wettberwerber hätten das besser im Griff. Der deutschen Wirtschaft helfen traditionelle Wettbewerbsvorteile nicht mehr. Neue zu schaffen, ist mitunter Aufgabe der Menschen in Leitungspositionen.
Führungskräfte heute sollten eher mitdenkende Teamplayer als klassische Leadership-Kompetenzen abarbeitende Möchtegern-Bosse sein.
Desweiteren braucht es ein mittleres Management, das sich im Umfeld agiler Teams mehr als Coach denn als Boss sieht und die selbst hochqualifizierten und kompetenten Teammitglieder nicht mit der eigenen Meinung übertrumpft, nur weil er/sie Manager ist. Heutige Führungskräfte sollten andere motivieren können, zu Verantwortung ermutigen sowie ein vertrauensvolles und transparentes Verhältnis zum Team unterhalten. 55 Prozent der befragten Mitarbeiter einer Gallup-Studie, die sagen, dass sie gut mit ihren Vorgesetzten auskommen und reden können, engagieren sich auch für den Betrieb. In Zeiten, in denen neue Fachkräfte dringend eingestellt oder gehalten werden müssen, ist das gute Verhältnis im Team ein wichtiges Argument. Mit klassischen Führungsqualitäten hat das nichts mehr zu tun und ist damit auch nicht zu machen.
Und schließlich muss jedes Unternehmen für sich den Begriff „Führung“ definieren, um die „richtigen“ Talente zu identifizieren. Die Forscher von Gallup empfehlen dringend eine Abkehr von der Fixierung auf Fähigkeiten wie Logik oder Rationalität. Derartige klassische Leadership-Kompetenzen vorzugeben führten dazu, dass Leitungsverantwortliche sich wie erwartet verhielten, ohne selbst nachzudenken. Auf diese Weise erhalte man zwar vorhersehbare Entscheidungen – in einem höchst dynamischen und ungewissen Marktumfeld seien diese aber oftmals hochgradig ineffektiv.
Mehr Mut zum Mut
Wer heute erfolgreich führen will, muss traditionelle Erwartungen beiseite schieben, sagen Experten. Wenn Führungskräfte doch bloß freier wären und sich mehr auf ihr Gespür und Intuition verlassen dürften! Das Problem: Sie müssen sich das erst einmal zutrauen.
Hier kommt die eingangs erwähnte Führungskräfteentwicklung wieder in Spiel. Statt den Kandidaten die Karriereleiter vorzubeten und zu definieren, wie sie nach oben kommen (gute Finanzbilanz), sollten deren Stärken identifiziert und gefördert werden. Das finden nicht nur „normale“ Arbeitende gut (siehe oben). Auch Manager wollen motiviert und erstgenommen werden.
Nicht nur gemeine Arbeitende finden Motivation gut. Auch Führungskräfte wollen wertgeschätzt werden.
Können Führungskräfte in einem gleichfalls vertrauensvollen Umfeld arbeiten, das Fehler toleriert und kreative Einfälle zulässt, trauen sie sich mehr, spielen ihre Stärken aus, kanalisieren ihre Energie in richtige, wenn auch manchmal unkonventionelle Entscheidungen und agieren nicht so „wie von ihnen erwartet wird“. Wie das gelingen kann, dafür gibt es verschiedene Methoden. Eine davon ist das so genannte Nudging.
Nudging: Intuitiv denken durch Anstupser
Die Theorie von Richard Thaler und Cass Sunstein zur Verhaltensökonomie besagt, dass man Menschen beeinflussen kann, ohne Verbote oder Gebote auszusprechen oder finanzielle Anreize verändern zu müssen. Ein Nudge ist ein Anstupser, der zu einem anderen Verhalten als das gewohnte führt. Einfaches Beispiel: Für Bernhard Günther, CFO beim deutschen Energiekonzern RWE, war eine Gewohnheit etwa die, dass in einem Meeting immer der Chef zuerst sprach. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine andere Meinung äußern würde sei dadurch gering gewesen, sagte Günther in einem Interview. Erst als man das änderte und die Führungskraft erst zum Schluss zu Wort kam, habe man eine größere Vielfalt an Ansichten und Einschätzungen erhalten.
Auf Führungskräfte übertragen ließe sich Nudging etwa so umsetzen: Unternehmen sollten Talente ihrer Leitungspersönlichkeiten fördern, indem sie ihnen Aufgaben übertragen, für die ihnen eigentlich das Know-how fehlt, die sie aber dank ihrer Stärken bewältigen können. Das sei zwar riskant, sagen Forscher, bei Erfolg aber lernen Führungskräfte viel für weitere Aufgaben. Oder: Platziert man Vorgesetzte zum Team statt in ein Einzelbüro, erhöht das den Kontakt zum Team und fördert den Austausch und die Verbindung zur „Basis“.
Eingriffe in den Arbeitsalltag von Menschen, um deren Entscheidungen auf ungewohnte Grundlagen zu stellen, gab es laut McKinsey schon in den 1950er Jahren. Heute können Daten und deren Analyse dazu beitragen, die positiven Effekte unorthodoxer Entscheidungen sogar zu belegen und so queres Denken und Handeln weiter zu fördern.
Welche Methode auch immer gewählt wird: Damit Führungskräfte die besten Entscheidungen für das Unternehmen treffen können sollten sie ebenso auf eine moderne Unternehmensstruktur vorbereitet werden wie alle anderen Mitarbeiter auch. Neue Technologien und Arbeitsweisen verändern auch ihre Arbeit, an die sie sich gewöhnen müssen.