Warum die digitale Arbeitswelt eine starke EU braucht
Ist Europa bei der digitalen Transformation rückständig? Ja, sagen die einen und verweisen auf den Technologievorsprung in China oder die Tech-Giganten aus den USA. Mit Blick auf die digitale Arbeitswelt braucht sich die Gemeinschaft nicht zu verstecken – im Gegenteil.
Die Digitalisierung wird in den kommenden Jahren voraussichtlich Millionen von Arbeitsplätzen vernichten. Die Prognose, dass auf lange Sicht mehr Jobs entstehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Jobs nicht einfach plötzlich da sind und es automatisch Menschen gibt, die die neuen digitalen Tätigkeiten ausführen können. Vieles wird davon abhängen, wie Unternehmen und vor allem Beschäftigte mit dem digitalen Wandel umgehen. Die Voraussetzungen dafür können Firmen nicht alleine schaffen. Selbst auf nationaler Ebene sind den Verantwortlichen Grenzen gesetzt, da Digitalisierung und Globalisierung über Staatsgrenzen hinwegfegen. In dieser stürmischen Großwetterlage ist Europa, die Europäische Union, mit dafür verantwortlich, dass das digitale Zeitalter nicht als reiner Jobkiller, Datenkrake und „The-Winner-takes-it-all“-Ära in die Geschichte eingeht. Kann es das?
„Europa muss bei der Digitalisierung Selbstbewusstsein zeigen, sich nicht zurückstellen und immer nur auf andere schauen“, forderte etwa Björn Böhning, der für digitale Arbeit zuständige Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). ‚Die anderen‘, damit sind die USA und China gemeint, die die Arbeitswelt der Zukunft vor allem aus dem Blickwinkel der Unternehmen und des Staates definieren: mehr Wachstum, egal zu welchem Preis. Dass diesen Preis vor zu allererst die Beschäftigten zahlen, zeigen Aussagen wie etwa zuletzt die von Jack Ma: Der Chef eines der größten Technologieunternehmen Chinas, Alibaba, will die 72-Stunden-Woche und glaubt an das Mantra „Mehr Arbeit, mehr Erfolg“.
Europa als Mitarbeiterrechte prägender Gegenentwurf zu den USA und China
Europa hat durchaus das Zeug, ein Gegenmodell zu bilden, das eine Balance zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen herstellt und nicht einseitig zu Lasten der Arbeitenden geht. Ohnehin ist fraglich, ob es am Ende eine gute Idee ist, den Menschen weiterhin nur als auszunutzende Ressource zu sehen. Immerhin wird seit Beginn des digitalen Zeitalters endlich darüber geredet, dass ein technologischer Fortschritt, der allein für mehr Wachstum sorgt, untauglich ist.
Mehr denn je sollen Unternehmen ihre Beschäftigten in den Wandel einbeziehen, sie fordern, fördern und motivieren, ihnen Freiheiten gewähren, damit sie sich entfalten können, zufrieden sind und einen Sinn in ihrer Arbeit sehen, der sie antreibt. Mit Totalüberwachung ohne Datenschutz in China einerseits und einer „Der-Markt-wird-es-schon-richten“-Mentalität wie in den USA andererseits wird die Umsetzung solcher Konzepte schwer. Das ist aber die große Stärke der Europäischen Union.
Mit neuen Technologien und Strukturen des Arbeitslebens wächst die soziale Dimension der EU.
In Brüssel beschäftigt man sich nicht erst seit gestern mit sozialen und arbeitsrechtlichen Fragen, die nicht oder erst seit Kurzem in anderen Ländern überhaupt diskutiert werden. Da gibt es etwa EU-Vorschriften zu den Arbeitsbedingungen (wie Arbeitszeiten oder Teilzeitarbeit) oder für die Sicherheit und Gesundheit sowie den Schutz von Arbeitnehmern. Mit zunehmendem technologischen Fortschritt und den Veränderungen in den Strukturen des Arbeitslebens wächst zudem die soziale Dimension der EU, die im November 2017 in die europäische Säule sozialer Rechte mündete, um neue und wirksamere Rechte für Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme zu unterstützen.
Soziale Stärke und ethische Balance in der digitalen Arbeitswelt ausspielen
Dennoch sind die Herausforderungen durch die digitale Industrierevolution noch einmal gestiegen: Wie nutzt man die digitale Transformation mit Technologien wie Künstliche Intelligenz, Automation und der Möglichkeit, neue digitale Geschäftsmodelle zu etablieren, um das Wirtschaftswachstum zu steigern, ohne dabei die Menschen in der alten Arbeitswelt zurückzulassen? Fragen sowohl zu Arbeitnehmerrechten und Arbeitsbedingungen als auch zu Themen wie Bevölkerungsalterung, Weiterbildung und Arbeitskräftemobilität müssen hierbei neu diskutiert werden.
„In einer sich verändernden Arbeitswelt (…) müssen wir, die politischen Entscheidungsträger, unsere sozialen Einrichtungen, Regelwerke und Bildungssysteme anpassen, damit die Menschen auch in der neuen Arbeitswelt vertrauensvoll in ihre eigene Zukunft schauen können“, sagte die für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität zuständige EU-Kommissarin Marianne Thyssen.
Ein Weiterbildungskonto für alle Arbeitende und eine bessere gesetzliche Berücksichtigung von Selbständigen sind nur einige der Maßnahmen, die in der EU diskutiert werden.
Wie das aussehen könnte, hat eine Expertengruppe bestehend aus Vertretern der EU-Organe, der nationalen Regierungen, der Sozialpartner, der Zivilgesellschaft sowie der Wissenschaft Anfang April dieses Jahres auf einer Konferenz definiert. Aus den Trends, Auswirkungen und Herausforderungen der digitalen Transformation auf den Arbeitsmarkt leiteten sie Empfehlungen (pdf) für „Weiterbildung“, „neue Arbeitsbeziehungen“ sowie „einem neuen Sozialvertrag“ ab. Darunter:
- Jeder Arbeitende soll ein Weiterbildungskonto mit einer noch zu definierenden Summe besitzen, aus dem er oder sie Training-Maßnahmen für Fähigkeiten, die für die Digitalisierung benötigt werden, bezahlt.
- Alle Arten von Beschäftigungsverhältnissen werden gleichgestellt. In einer Umfrage unter europäischen Freiberuflern etwa wünschten sich 63 Prozent der Teilnehmer, dass Freelancer besser von der Legislative beachtet werden sollten.
- Der Wert des digitalen Eigentums wird umverteilt: Wenn Daten von Mitarbeitern und Konsumenten für den Firmenerfolg mitverantwortlich sind, sollten diese Werte auch entsprechend beachtet werden unter der Beantwortung von Fragen wie: Wem gehören die Daten? Demjenigen, der sie generiert, oder derjenige der sie zu Geld macht?
Standards für Arbeitnehmerrechte in der Digitalisierung gibt es schon
Das Konferenzdokument ist noch kein Maßnahmenkatalog und man kann natürlich unterstellen, das sei im jetzigen Stadium nur heiße Luft. Doch gemessen an den Voraussetzungen, die Arbeitende anderswo erwarten und mit Blick auf bereits bestehende EU-Normen zum Thema Arbeit, hechelt Europa hier nicht hinterher.
- Während in den USA etwa die Auswirkungen der Digitalisierung und die dazugehörigen ethischen Fragen als „heißer Scheiß“, debattiert werden (Böhning), hat die EU beispielsweise die Rechte für Arbeiter in der Gig-Economy gestärkt. Jetzt gibt es Mindestrechte in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, einschließlich der Dauer der Probezeit, der Arbeitszeiten und restriktiver Verträge.
- Beim Thema der an den Lebensumständen angepassten Arbeitszeiten sollen neue EU-Vorschriften Männern wie Frauen erleichtern, flexible Arbeitszeitregelungen zu beantragen. In Hinblick auf motivierte und zufriedene Beschäftigte (Stichwort Mitarbeiter-Engagement) ist das ein wichtiges Merkmal.
- Im Zuge einer neuen EU-Verkehrsgesetzgebung, dem sogenannten Mobilitätspaket I, sollen die Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern verbessert werden. Das EU-Parlament hat sich hier deutlich in die Mindestlohn-Debatte eingeschaltet und für LKW-Fahrer den Mindestlohn gefordert, der in dem Land, in dem der Fahrer tätig ist, gilt. Hintergrund sind die in der Regel schlecht bezahlten und mit Überstunden strapazierten LKW-Fahrer aus Osteuropa, deren Arbeitsbedingungen damit verbessert werden sollen.
- Und dann ist da noch die DSGVO. Die Datenschutzgrundverordnung der EU betrifft die Arbeitswelt beispielsweise im Personalbereich und überwacht die korrekte Erhebung und Verarbeitung personenbezogener (Mitarbeiter-)Daten. Die fallen schon beim Recruiting an, das immer mehr mit digitalen Tools – und damit mit viel mehr Daten abgewickelt wird – und zieht sich durch das gesamte Arbeitsverhältnis.
Artikel 31 der „Charta der Grundrechte der EU“: Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
Die Europäische Union mit ihrer gemeinschaftlichen Vision von Wirtschaft und Gesellschaft ist mehr denn je aufgerufen, ethische, soziale und betriebliche Fragen auf ihre Agenda zu setzen, um den digitalen Wandel in der Arbeitswelt mit Standards für beide Seiten zum Erfolgsmodell zu machen. Eigenschaften wie Vielfalt und Multikultur, die in der digitalen Arbeitswelt für Kreativität und neue Ideen stehen, sind in Europa naturgemäß vorhanden. Das Soziale liegt dennoch bislang vor allem in nationalen Händen. Trotzdem haben deutsche Gewerkschaften wie die IG Metall grenzübergreifende Sozialstandards zum Thema der Europawahl gemacht und fordern etwa die Einführung von Mindestlöhnen in allen EU-Staaten. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB erinnert daran, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Artikel 31 der „Charta der Grundrechte der EU“ das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen hat.