Kreative Freiräume im Clean-Desk-Großraumbüro – Das kann nicht gutgehen

Große Räume, reine Schreibtische, nichts Privates, alles weiß. Während Büro-Trends mit Clean Desks und Hot Desks weiter Richtung Einheitsbrei gehen, sollen sich Beschäftigte persönlich entfalten dürfen, um zufrieden und produktiv zu arbeiten. Wie soll das zusammenpassen?

In der neuen Konzernzentrale von Michelin in Frankfurt, die Ende Juni eingeweiht wurde, haben die Beschäftigten keine eigenen Arbeitsplatz mehr. Alle müssen ihren Bereich abends aufräumen und sich am nächsten Tag einen neuen Platz suchen. „Hot Desk“ heißt dieses Prinzip, das sich in vielen Büros verbreitet. Klassische Büroräume genügten nicht mehr den Anforderungen an die Zukunft, sagt Anish Taneja, CEO der Region Nordeuropa beim französischen Reifenhersteller. „Wir müssen schnell sein, uns austauschen können“, so Taneja.

Seit Jahren geht das so: Großraumbüros werden als Collaboration-Tempel angepriesen.

Seit Jahren geht das so: Zumeist minimalistische Großraumbüros werden als Collaboration-Tempel angepriesen, die Beschäftigte kommunikativ zusammenbringen und Prozesse dynamisieren sollen. Kolleg*innen sollen eng, agil, vernetzt zusammenarbeiten und kurze Wege haben. In den Räumlichkeiten des Warschauer 360 CodeLab-Ablegers, eines Accelerator-Programms für Start-ups, etwa sollen die Inhouse-Experten „in enger Zusammenarbeit miteinander ihrer Kreativität freien Lauf lassen, herkömmliche Denkmuster aufbrechen, innovative Lösungsansätze finden und Projekte dynamisch umsetzen“. Dafür hat man sich dort wie in unzähligen anderen Großraumbüros ebenfalls Clean-Desk-Policy verschrieben. Clean-Desk ist die Voraussetzung für das Hot-Desk-Konzept: kein persönliches Utensil bleibt stehen, weil morgen wahrscheinlich ein ganz anderer hier Platz nimmt. Dass Studien immer wieder zum Ergebnis kommen: Im Großraumbüro herrscht mehrheitlich Schweigen, ignorieren viele Firmen.

Die moderne Arbeitswelt driftet bei Mensch und Umgebung auseinander

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Während also die eine Seite der modernen Arbeitswelt von Minimalismus und Reinheit geprägt wird, sieht die andere Seite so aus: Die Digitalisierung ermöglicht ganz neue Arbeitsweisen, die auf besondere Lebensumstände von Beschäftigten Rücksicht nimmt. Die sollen sich wohlfühlen und Spaß an der Arbeit haben, man gewährt ihnen Freiräume und Individualität zum Denken und Handeln.

Deshalb werden etwa Führungskräfte aufgefordert, ihre Mitarbeiter*innen mehr wahrzunehmen. Wertschätzung und Respekt, Lob und Fehlertoleranz gelten als wichtige Voraussetzungen, für Neues offen zu sein, Mut zu haben, etwas auszuprobieren, kreativ und unkonventionell zu denken. Deshalb entwickeln Experten Lernangebote, die sich dem Tempo und den favorisierten Konzepten anpassen (beispielsweise Online oder Offline). Deshalb gibt es die Diskussion um faire Vergütung, flexible Arbeitsgestaltung, und so weiter. Persönliche Entfaltung ist die Grundlage modernen Arbeitens.

Jeder nach seiner Façon ist im Einheitsbrei nicht möglich

Wie passt das alles zu dem klaren und gradlinigen Großraumbüro, dessen Arbeitsplätze sich höchstens x in „links von der Säule“ oder „rechts von der Säule“ unterscheiden? In Umgebungen, in denen niemand ein Foto seiner Familie aufstellen oder seine Lieblingspflanze mitbringen darf? 68 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage in Frankreich sagen Nein zu Clean Desk. Der Soziologe Danièle Linhart geht noch weiter und meint zum Hot-Desk-Modell, die Unsicherheit, wo man kommenden Tag sitzen werde und ob es einem da gefällt, mache nervös und sogar Angst. Hinzu kommt, dass dieses Konzept oft so ausgelegt ist, nicht für jeden Mitarbeiter einen Platz vorhalten zu können. Wie soll da eine positive Atmosphäre entstehen?

Und dann wird ihnen vorgeschrieben, wie ihr Arbeitsplatz auszusehen hat.

Die Antwort: Gar nicht. Die als Kommunikationsoasen verkauften sterilen Büros sind ein Widerspruch zum Zeitgeist der modernen Arbeitswelt: Menschen sollen nach ihrer Façon arbeiten dürfen, weil nur das sie motiviert. Gleichzeitig wird ihnen vorgeschrieben, wie ihr Arbeitsplatz auszusehen hat.

Office Hacks für ein schöneres Büro sagen schon alles

Mehr zum Thema: Einfache, aber wirksame Kniffe für ein erträglicheres Großraumbüro (Quelle:Steelcase via ImageGear, AccuSoft Corp.)

Zwar investieren Unternehmen einiges, um Büros erträglich zu machen, damit sich die Mitarbeiter wohlfühlen, selbst wenn diese in einem großen Raum ohne Privatsphäre sitzen müssen. Bürogestalter hübschen Räume aufwändig auf oder setzen Empfehlungen um, die man über Millionen von Artikeln bekommt, wenn man „Office Hacks für eine glückliche Umgebung“ in eine Suchmaschine tippt: mehr Farbe etwa, vor allem helle Farben wie gelb, blau und grün. Und Pflanzen. Große Pflanzen trennen große Räume und haben eine positive Wirkung auf Menschen. Sie gelten als ganz natürlicher Stimmungsaufheller für die Belegschaft.

Wenn Unternehmen Office Hacks brauchen, ist das ein Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt am Konzept offener, anonymer Arbeitsumgebungen: Warum muss man gesonderte Wohlfühlbereiche (360 CodeLab) einrichten? Ist der Rest zum Davonlaufen? Wofür sind extra Kreativräume da (Michelin)? Die offene Umgebung soll doch kreativ machen. Und haben riesige einheitliche Pflanzentöpfe den gleichen Effekt wie die Lieblingsblume auf dem Schreibtisch?

Den eigenen Stil zeigen mit Stickern auf dem Laptop ist besser als gar nichts.

Es mag Unternehmenskulturen geben, die offene Büros ohne festen Arbeitsplatz lieben. Die Hot Desks mit Flexibilität gleichsetzen und in der Beschäftigte dankbar sind, dem Chaos, das auf dem eigenen Schreibtisch schnell entsteht, zu entgehen. Die Vorteile für manche können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der aufgezwungene Minimalismus kein gutgemeintes Angebot an Beschäftigte ist, sich besser austauschen oder agiler arbeiten zu können. Das Ziel für Unternehmen ist in vielen Fällen: Fläche und damit Kosten zu sparen.

Sie tun sich damit keinen Gefallen. Denn sie setzen die Motivation, Produktivität und Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter aufs Spiel. Für Umgebungen, in denen feste Plätze aus agilen Gründen nicht optimal sind, hat die Arbeitspsychologin Christa Schirl noch einen Tipp: „Da ist es dann gut, wenn zumindest mein Laptop eine besondere Hülle oder mein Stift einen Puschel haben darf, damit ich so meinen Charakter zeigen kann. Wenn nicht einmal das Kaffeehaferl personalisiert sein darf, kann ich keine Persönlichkeit ausdrücken und das geht auf Kosten der Fantasie und der Kreativität.“

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