Amazons gigantisches Fortbildungsprogramm – und warum es vielen Firmen ein Vorbild sein sollte
Der Konzern investiert über 700 Millionen US-Dollar in eine Mitarbeiter-Fortbildungsinitiative, die ein wichtiger Impuls für die gesamte Wirtschaft und Arbeitswelt sein könnte. Allerdings wird Amazon sein schlechtes Image in Sachen Arbeitsbedingungen zur Last — und das Projekt könnte einen faden Beigeschmack bekommen.
Amazon ist nicht unbedingt für die besten Arbeitsbedingungen bekannt. Gerade ist der „Prime Day“ vorbei, ein paradiesischer Schnäppchentag für Kunden – und offenbar die Hölle für die Beschäftigten des Konzerns. Die berichten laut des US-Nachrichtensenders CNBC in einer Facebook-Gruppe von Zeitdruck, Stress, Überbelastung und Überstunden en masse, die ihnen die Rabattschlacht eingebracht habe. Nicht zum ersten Mal gibt es Beschwerden der Belegschaft. Mitten in der Diskussion um den Joballtag bei Amazon startet das viel kritisierte Unternehmen aber eine Initiative, die den Konzern zum Vorreiter machen könnte, auch wenn nicht wenige bei diesem Gedanken erst einmal die Fäuste in den Taschen ballen dürften.
Nicht nur Amazon braucht Data Scientists und Softwarespezialisten
Amazon will Beschäftigte mit Kompetenzen ausstatten, die auch in anderen Unternehmen vonnöten sind.
In den kommenden Jahren können 100.000 Amazon-Beschäftigte in den USA, ein Drittel aller Mitarbeiter in den Vereinigten Staaten, an einem Fort- und Weiterbildungsprogramm mit dem Titel „Upskilling 2025“ teilnehmen. Geschult werden sollen Fähigkeiten, die nicht nur nach Ansicht Amazons in Zukunft für die Arbeitswelt wichtig sind. „Amazonians“ aus allen Bereichen, mit technischem Hintergrund oder ohne, können Trainings durchlaufen, die sie zu Datenanalyse-Spezialisten, Business-Analysten oder Software-Spezialisten machen.
Darüber hinaus werden Skills in Bereichen wie Logistik, Transport und Fulfillment-Prozessen vermittelt mit dem Ziel, die Kundenzufriedenheit zu verbessern. Solche Jobs und Aufgaben seien in den vergangenen fünf Jahren im eigenen Haus am stärksten gewachsen, so Amazon, und ein Anzeichen dafür, was in Zukunft an Know-how und Fähigkeiten in Betrieben allgemein nachgefragt werde.
Unternehmen dürfen nicht nur an sich denken
Mit „Upskilling 2025“ initiiert der Konzern etwas, dessen sich die Unternehmenswelt nur langsam bewusst wird: Mitarbeiter nicht nur als festes Rädchen in der eigenen Betriebsmaschinerie zu sehen. „Zwar möchten viele unserer Beschäftigten bei Amazon Karriere machen“, sagt Beth Galetti, Senior Vice President für den Bereich Personal, „für andere ist das hier bloß ein Zwischenschritt. Wir investieren dennoch in alle Mitarbeiter und helfen ihnen, Neues zu lernen, damit sie bessere Karrierechancen haben.“ Heißt: Amazon will Menschen mit Kompetenzen ausstatten, die diese nicht nur beim Konzern selbst, sondern in jeder Branche einsetzen können.
Das bedeutet im besten Fall, dass die Erwerbstätigen besser bezahlte Jobs bekommen. Darüber hinaus könnten sie als gut ausgebildete und händeringend gesuchte Fachkräfte die Wirtschaft insgesamt stützen und voranbringen. „Die Herausforderung besteht darin, nicht nur neue Technologien einzusetzen, sondern sich den dynamischen Veränderungen in der Wirtschaft anzupassen“, heißt es bei Amazon. Erwerbstätigen komme bei den Herausforderungen eine bedeutende Rolle zu.
Upskilling: Auch deutsche Konzerne verstehen langsam
Tatsächlich tun sich Unternehmen bislang eher schwer, Mitarbeiter auszubilden in der Befürchtung, dass sie dann weiterziehen, womöglich noch zur Konkurrenz. Nur ganz langsam brechen derartige Denkmuster auf. Beispiel Siemens: Der deutsche Konzern lässt Beschäftigte ziehen, wenn diese neue Herausforderungen suchen, aber die Tür für Rückkehrer bleibt offen. Von Mitarbeitern wird das als Zeichen der Wertschätzung gewertet. Und wer weiß? Woanders lernen sie vielleicht Dinge, die bei einer Rückkehr in den Betrieb dringend gebraucht werden.
Auch der Konsumgüterhersteller Henkel hievt sich und seine Mitarbeiter auf eine neue Lernebene. Die globale Fortbildungsinitiative „Digital Upskilling“ ist für die weltweit 53.000 Mitarbeiter eine „Digitalreise“, an deren Ende neue Talente, ausgebildete Fach- und Führungskräfte und motivierte Mitarbeiter stehen, die die Transformation bei Henkel stützen und mitprägen.
Amazon steht in der Kritik – Das könnte die Initiative verwässern
Bei aller Kritik gegenüber Amazon also ist der Schritt, Mitarbeiter bei der Weiterbildung in den Vordergrund zu stellen (zumindest neben die eigenen Interessen, was grundsätzlich nicht verwerflich ist), ein positiver Ansatz, wie künftig mit Belegschaften im individuellen wie unternehmerischen Kontext umgegangen werden sollte. Die Politik kann hier allenfalls Rahmenbedingungen schaffen, doch Unternehmen müssen die Aus- und Fortbildung von Erwerbstätigen übernehmen. Sie wissen, welche Kompetenzen benötigt werden und welche Instrumente Beschäftigte am besten dorthin bringen.
Es bleibt abzuwarten, ob Amazon tatsächlich als Vorreiter dieser Entwicklung in die Geschichte eingeht oder ob der jüngste Zug nur eine Art Ablenkungsmanöver über die Arbeitsbedingungen vor Ort ist, wie Kritiker vermuten. Die sehen sich schon jetzt unter anderem durch Streiks der Belegschaft während des Prime Days bestätigt, die trotz verbesserter Gehälter (seit 2018 15 US-Dollar pro Stunde, der Durchschnitt in den USA liegt bei 7,25 US-Dollar) und verlängerter, bezahlter Elternzeit (20 Wochen) stattfanden.