Industrie 4.0: Der digitale Wandel braucht ein ganzheitliches Konzept

Auch in der industriellen Produktion verändert die Digitalisierung Arbeitsplätze und Arbeitsorganisation. Vom Wandel profitieren kann man jedoch nur mit einem gut durchdachten Gesamtkonzept und einer klaren Zielsetzung. Tools allein reichen nicht aus. 

Die Arbeitsweise der Menschen hat sich im Zuge der Digitalisierung bereits stark verändert und wird es weiterhin tun. Globalisierung, demografischer Wandel und Veränderungen gesellschaftlicher und kultureller Werte sind neben der Digitalisierung die drei anderen wichtigen Trends der heutigen Zeit: Bereits jetzt fehlen in vielen Bereichen Fachkräfte – eine Entwicklung, die der demografische Wandel in Zukunft weiter verstärken wird. Zugleich stellen die jungen Generationen neue Ansprüche an ihre Arbeitsweise, erwarten mehr Flexibilität bei der Wahl des Standortes und der Zeiteinteilung.

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Industrie 4.0 kann die Globalisierung unterstützen und auch Hilfestellungen für den gesellschaftlichen Wandel geben. Wichtig ist dabei aber, dass die Transformation umfassend gedacht wird: Arbeitsplätze gilt es mit neuen Technologien auszustatten, Prozesse im Unternehmen müssen neu ausgerichtet werden und es entsteht Bedarf an Informations- und Kommunikationstools, um örtlich und zeitlich verteilte Teams zusammenzubringen. Auch der Führungsstil im Unternehmen muss sich letztlich ändern: Agilität ist gefragt, alte Hierarchiestrukturen müssen hierfür aufgegeben werden. Mit der klassischen Arbeitsorganisation können Unternehmen mit den modernen Entwicklungen auf dem Markt und den Ansprüchen von Arbeitnehmern, Partnern und Kunden nicht mehr mithalten.

Führung 4.0 mit flachen Hierarchien und Vertrauenskultur

Mit Industrie 4.0 geht deshalb auch die Transformation zur Führung 4.0 einher. Flache Hierarchien werden benötigt, weil Arbeitnehmer immer selbstständiger arbeiten wollen und müssen; zudem können Führungskräfte nicht mehr jeden Arbeitsschritt kontrollieren. Zugleich ist der Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen entscheidend, weil mit der Flexibilisierung der Arbeitsweise auch eine Vertrauenskultur etabliert werden muss: Vor allem Arbeitnehmer, die in Bürojobs tätig sind, arbeiten nicht länger nach Stechuhr, sondern vermehrt mobil.

Am Ende des Tages muss die geforderte Leistung aber erbracht sein. Mitarbeiter brauchen daher eine klare Zielvorgabe. Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitern eine Vision aufzeigen, sie inspirieren und motivieren, damit die Mitarbeiter sich zwar frei, aber in die richtige Richtung bewegen. Ein regelmäßiger Austausch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern ist hier unabdingbar. Für eine flexible und moderne Arbeitsweise braucht es daher digitale Interaktionssysteme. Im Vorfeld muss aber ermittelt werden, welche Tools überhaupt sinnvoll sind – es nützt schließlich nichts, einfach irgendein System einzuführen. Vielmehr müssen Interaktionssysteme in die Unternehmensprozesse, in die Arbeitsorganisation und in ein Gesamtkonzept eingebunden werden.

Zu klären ist deshalb unter anderem, welche Zielvorgaben das System für die internen Teams und für die Zusammenarbeit mit Partnern, Lieferanten und Kunden erfüllen muss und was die Funktionspalette umfassen soll: Was möchten die Unternehmen für sich selbst nutzen, was müssen sie nutzen, weil Partner oder Lieferanten damit arbeiten? Welche Funktionen sind notwendig? Brauchen die Mitarbeiter ein Whiteboard-System wie Miro oder Padlet, ein Unternehmenswiki? Was hat bei der Einführung Priorität?

Akzeptanz und Fähigkeit bei den Mitarbeitern schaffen

Ganz entscheidend ist im nächsten Schritt, die Mitarbeiter abzuholen und zu befähigen. Denn akzeptieren diese die Transformation nicht oder kommen sie mit den neuen Arbeitsmitteln nicht zurecht, wird der Wandel kaum gelingen. Jüngere Mitarbeitende sind digital affin und bedienen digitale Tools intuitiv. Ältere Mitarbeiter aber begegnen den Technologien oft mit zurückhaltendem Respekt und einer gewissen Scheu. Mitarbeiterschulungen sind daher elementarer Bestandteil der Transformation hin zur Industrie 4.0. E-Learnings können hier unterstützen, allein sind sie als Lösung aber nicht ausreichend. Denn es ist wenig zielführend, Mitarbeitenden die Scheu vor digitalen Tools mit einem anderen digitalen Tool zu nehmen. Eine Kombination aus Präsenzveranstaltungen, um zum Beispiel zu Beginn Barrieren abzubauen, und digitalen Methoden zum Selbstlernen ist deshalb weitaus zielführender.

Erfolgsfaktoren in der Mitarbeiterfortbildung
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Dieses Blended Learning kann dauerhaft im Unternehmen zur Mitarbeiterentwicklung oder Einarbeitung neuer Kollegen zum Einsatz kommen. Wichtig ist bei solchen digital unterstützten Lernmethoden, das erlernte Wissen in die Praxis umzusetzen. Hier bietet sich ein Coach oder Mentor an, der die Mitarbeiter unterstützt. Nicht zu verachten ist auch der Gamification-Faktor: Macht E-Learning Spaß, sind die Motivation und letztlich auch die Lernerfolge höher. Umfragen oder Quizze zum Beispiel lockern die Lernmethoden auf. Auch Gruppenarbeiten sind möglich, ohnehin sollten E-Learning-Plattformen immer auch den Austausch zwischen Lernenden untereinander sowie zwischen Lernenden und Lehrenden ermöglichen, um Fragen beantworten zu können.

Steht die digitale Infrastruktur schließlich bereit, lässt sich die Arbeitsweise deutlich effizienter gestalten – sowohl in der Bürosituation, als auch in der Fertigung. Mitarbeiter mit Büro-Aufgaben können flexibel und dennoch gemeinsam arbeiten, was die Arbeit gerade für global agierende Unternehmen vereinfacht und beispielsweise Reisezeit sowie -kosten einspart. In der Fertigung werden die Abläufe ebenfalls effizienter, erleichtert und beschleunigt: Den Mitarbeitenden können je nach Wissensstand unterschiedlich detaillierte Auftragsinformationen gegeben werden. Neue Mitarbeiter brauchen eine Schritt-für-Schritt-Anleitung; Fachkräften, die seit Jahren dabei sind, reicht hingegen schon die Typenbezeichnung.

Kollaboration von Mensch und Maschine

Möglich ist im Industrie-4.0-Umfeld auch, dass der Arbeitsplatz Mitarbeiter identifiziert und die Höhe des Arbeitsplatzes, die Sprache der Anleitungen und die Detailtiefe individuell und automatisiert anpasst. Auch der Einsatz von Smart Glasses und Augmented Reality (AR) vereinfacht die manuelle Arbeit: Muss beispielsweise ein Teil aus der Maschine ausgebaut werden, zeigt die AR-Brille dem Mitarbeiter an, welche Schraube er zuerst lösen muss. Laserbasierte Assistenzsysteme können den Mitarbeitern zeigen, wo das nächste Teil montiert werden muss, während kollaborative Roboter Dinge anreichen oder Präzisionsaufgaben gemeinsam mit den Mitarbeitern ausführen. Und Exoskelette unterstützen beim Heben und Tragen schwerer Lasten.

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Früher standen die Roboter aus Arbeitsschutzgründen hinter Zäunen – in der Industrie 4.0 erkennen sie hingegen automatisch, wenn ein Mensch zu nahekommt und stoppen die Arbeit automatisch. Kollaboratives Arbeiten von Mensch und Technik ist in der Industrie 4.0 somit Gang und Gäbe. Der Begriff Internet of Things reicht deshalb nicht weit genug: Nicht nur Maschinen agieren miteinander, sondern Menschen und Maschinen arbeiten gemeinsam. Deshalb muss der Sammelbegriff in diesem Zusammenhang um die Dimensionen „Services“ und „Persons“ ergänzt werden.

Der Wandel hin zur Industrie 4.0 mag aufwändig sein, lohnt sich für Unternehmen aber: Ihre Leistungs- und Innovationsfähigkeit steigt, sie arbeiten effizienter und performanter. Auch die Motivation der Mitarbeiter ist höher, weil vor allem die jüngeren Generationen diese neuen Arbeitsweisen verlangen. Wer seinen Fachkräften die Wünsche nach Flexibilisierung und Technologisierung erfüllt, bindet sie langfristig und gewinnt leichter neues qualifiziertes Personal hinzu.

Vor allem der Mittelstand kann aus der Transformation zur Industrie 4.0 schnell viele Vorteile ziehen. Denn dieser ist nicht so träge wie die Großindustrie, sondern passt sich schneller an. Problem für die einzelnen Unternehmen ist allerdings, dass sich eben jedes mittelständische Unternehmen schnell anpassen kann. Deshalb muss deutlich gesagt werden: Die Unternehmen müssen die Transformation jetzt vollziehen. Andernfalls verlieren sie Wettbewerbsvorteile und werden abgehängt.

Fazit

Mit digitalen Interaktionsplattformen, Assistenzsystemen oder Robotern allein lässt sich die Transformation zur Industrie 4.0 nicht vollziehen. Vielmehr müssen Unternehmen ein Gesamtkonzept entwickeln, das auch die Organisation der Arbeit und die Führung der Mitarbeiter neu aufstellt. Andernfalls leisten die Technologien keine ausreichende Unterstützung oder erschweren die Arbeit sogar. Unternehmen sollten die Transformation zwar gut durchdacht angehen, sich aber nicht mehr allzu viel Zeit mit ihr lassen. Andernfalls riskieren sie, den Anschluss an die Konkurrenz und den Markt zu verlieren.


Über den Autor

Über den Autor

Dr. Jörg Pirron ist Managing Director der Protema Unternehmensberatung GmbH.

 

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