Die IT entwickelt sich zum Flaschenhals der Digitalisierung

Die Digitalisierung zwingt Unternehmen dazu, mehr Software zu nutzen, aber auch viel mehr eigene Software-Projekte zu betreiben. Die Crux dabei: Das eigene Team kann das Pensum nicht leisten, Fachkräfte sind kaum zu finden. Mittelfristig zeichnen sich zwei Lösungen ab.

Es liegt wirklich nicht daran, dass Unternehmen sich noch davor drücken würden, die digitale Transformation anzupacken und umzusetzen. Dass es mit der Digitalisierung industrieweit eher schleppend vorangeht, ist mehr ein Ressourcenproblem, das belegten zahlreiche Studien in den letzten Jahren. Zuletzt meldete im Dezember der Branchenverband Bitkom 82.000 unbesetzte IT-Jobs in Deutschland, was eine dramatische Steigerung von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr darstellt. Programmierer sind die am meisten gesuchten Fachkräfte, gefolgt von Projektmanagern, Anwendungsbetreuern, Qualitätsmanagern und Sicherheitsexperten. 

61 Prozent der Unternehmen schieben einen Backlog von mehr als zehn Projekten vor sich her. (Quelle: Appian 2018 Digital Transformation Readiness Survey)
61 Prozent der Unternehmen schieben einen Backlog von mehr als zehn Projekten vor sich her. (Quelle: Appian 2018 Digital Transformation Readiness Survey)

All diese Spezialisten sollen vor allem eigene Software-Projekte in den Unternehmen vorantreiben. Bei diesen klemmt es allerdings derzeit gewaltig. Laut einer internationalen Umfrage des Software-Anbieters Appian und des US-Magazins DevOps melden 32 Prozent der befragten Firmen einen Rückstau von mehr als 20 Software-Projekten, bei weiteren 23 Prozent sind es 10 bis 20 Projekte. Für 41 Prozent der Unternehmen bleiben die Projekte für mindestens drei Monate in der Warteschlange, bevor sie angegangen werden können. Lediglich 17 Prozent sind in der Lage, neue Software-Projekte in weniger als einen Monat ab der Bedarfsmeldung zu starten. Bis zur Auslieferung dauert es bei drei von vier Firmen länger als drei Monate. 

Alte Anwendungen und Kommunikationsprobleme

Währenddessen kommen laut Umfrage neue Projekte immer schneller hinzu und zugleich müssen die bereits vorhandenen Anwendungen gewartet, häufig auch weiterentwickelt oder angepasst werden. Mehr als die Hälfte der befragten Firmen wollen ihre altgedienten eigenen Anwendungen demnächst konsolidieren oder modernisieren. Das macht es Unternehmen schwer, ihre Software-Ressourcen auf die eigentlichen Aufgaben der Digitalisierung zu konzentrieren, nämlich neue softwaregestützte Geschäftsmodelle und Produkte zu entwickeln.

Zusätzlich zum Ressourcenproblem kommt ein weiteres in Form der Kommunikation zwischen der IT und den Fachabteilungen hinzu. Appian nennt das den „LoB Disconnect“, wobei LoB für Line of Business steht, also der Fachabteilung. So musste jedes vierte Unternehmen bei der Appian-Umfrage konstatieren, dass Business-Abteilungen und der IT eine gemeinsame Sprache fehlt, mithilfe derer sich geschäftliche Anforderungen in IT-Entwicklungsaufgaben übersetzen ließen. Und bei jedem dritten Unternehmen fehlt es an gemeinsamen Kriterien, auf deren Basis sich die Qualität der technischen Lösungen messen ließe.

Weniger Code schreiben!

Die gemeinsame Sprache müssen Fachabteilungen und die IT in vielen Unternehmen erst noch entwickeln. (Quelle: Appian 2018 Digital Transformation Readiness Survey)
Die gemeinsame Sprache müssen Fachabteilungen und die IT in vielen Unternehmen erst noch entwickeln. (Quelle: Appian 2018 Digital Transformation Readiness Survey)

Für die Beschleunigung der Software-Entwicklung hält Appian als Software-Anbieter natürlich eine technische Lösung parat, nämlich die eigene Low-Code-Entwicklungsplattform. Über solche Plattformen wird Software mittels Modellierung statt über dem klassischen Verfassen von Programmiercode erstellt. Dazu werden über eine grafische Benutzeroberfläche Funktionseinheiten so miteinander verknüpft, dass sie den gewünschten Geschäftsprozess abbilden. Das spart Programmierressourcen und erleichtert Veränderungen, sofern die damit abgebildeten Funktionen und Prozesse nicht zu komplex sind.  

Low-Code-Plattformen wird seitens vieler Marktforscher eine große Zukunft vorausgesagt und Unternehmen, die in diesem Bereich aktiv sind, werden hoch bewertet. Neben Appian gehören Salesforce, ServiceNow, OutSystems und Mendix zu den Technologieführern. Mendix wurde letzten Herbst von Siemens übernommen, um über dessen Cloud-Plattform die Entwicklung von Anwendungen fürs Internet der Dinge zu beschleunigen. Zuvor hatten IBM und SAP Kooperationsverträge mit Mendix abgeschlossen. Für das US-Unternehmen mit 400 Beschäftigten war Siemens bereit, 600 Millionen Euro zu zahlen. 

Vernetzung und Ökosysteme

Low-Code-Plattformen könnten langfristig auch eine tragende Rolle bei der Lösung des Ressourcenproblems spielen. Immer mehr Unternehmen kommen zum Schluss, dass sie ihr Pensum an Software-Entwicklung nicht alleine stemmen können. Stattdessen versuchen sie, systematisch externe Kräfte einzubinden und zugleich durch Kooperationen entweder ein eigenes Ökosystem aufzubauen oder Teil eines bereits existierenden zu werden. 

Zwei Stoßrichtungen sind dabei zu erkennen: Zum einen bauen (vor allem größere) Unternehmen einen Kreis von Dienstleistern mit spezialisiertem Know-how in bestimmten Feldern auf, um kurzfristig auf Expertise zugreifen zu können; zum anderen streben sie engere Kooperationen mit Zulieferern, Geschäftspartnern, Kunden und auch Wettbewerbern an, um gemeinsam Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten. 

„Wie genau kriege ich die Vielzahl von Partnern gesteuert?“

Der Stuttgarter IT-Dienstleister Gemmacon beispielsweise ist für Unternehmen wie Daimler oder Continental ein Ressourcenpool für Experten in Sachen Prozessmanagement oder Analytics. „Wir sehen uns als digitalen Pionier, der Spezialwissen in die Unternehmen trägt und dafür sorgt, dass dieses Wissen langfristig beim Kunden verankert und ausgebaut wird“, erklärt Benedikt Schwaiger, Geschäftsführer von Gemmacon. In dieser Rolle stellt Gemmacon eigene Mitarbeiter über längere Zeit Kunden zur Verfügung, die an den Kundenprojekten mitarbeiten. 

Die neue Rolle der IT

Die zweite Variante, die kooperative Vernetzung mit einer Vielzahl von Partnerunternehmen, ist um einiges anspruchsvoller. „Wie genau kriege ich diese Vielzahl an Partnern mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen gesteuert? Dieses Geflecht im Griff zu halten wird zur neuen Kernkompetenz der IT über die nächsten Jahre“, erklärt Matthias Behrens, Mitglied des Präsidiums des Bundesverbands der IT-Anwender VOICE. 

In dieser Rolle muss die IT laut Behrens für drei Grundstrukturen sorgen: „Dazu gehört die grundlegende technische Basis vorzugeben, zum Beispiel SAP S/4. Hinzu kommen die Collaboration Tools, mithilfe derer sowohl intern als auch mit externen Partnern zusammmengearbeitet wird.“ Da müsse sich die IT bewusst sein, dass einfach nur SharePoint zur Verfügung zu stellen heute einfach nicht mehr ausreicht. „In Zeiten, in denen sich jeder Anwender Apps auf dem Handy herunterladen und nutzen kann, gewinnt eben die beste App und genau diese wird auch eingesetzt, ob das die IT nun erlaubt oder nicht. So gesehen muss die IT eine gute Plattform zur Verfügung stellen, die das Potenzial hat, auch genutzt zu werden.“ 

Die dritte Aufgabe bestehe darin, den technischen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen Innovationen stattfinden sollen, nicht aber die Nutzung bestimmter Tools vorzugeben. Allerdings dürfe dieser Rahmen nicht zu eng abgesteckt sein. „Ob ich für die Entwicklung von KI-Anwendungen Googles TensorFlow oder irgendwelche Tools aus Microsofts Azure Cloud nutze, sollte nicht dabei nicht entscheidend sein und den Innovationsteams auch nicht vorgegeben werden“, so Behrens.

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