Vom Tanker zur Schnellbootflotte – die Firmen-IT braucht neue Strukturen

Das Internet der Dinge hebt das Thema Vernetzung auf eine Stufe. Auf Sicht der IT besteht die Aufgabe, die dabei zu bewältigen ist, nicht nur aus einer technischen Komponente. Die neue Digitalisierungswelle setzt auch neue IT-Strukturen voraus. 

Das Web, soziale Netzwerke, Smartphones und Tablets, Cloud Computing – jede einzelne dieser Technologiewellen hat auch bei IT-Abteilungen ihre Spuren hinterlassen. Während die meisten noch damit beschäftigt sind, sich auf das Cloud-Paradigma einzustellen, rollt bereits die nächste Welle der Digitalisierung an und sie verspricht, noch größere Veränderungen mit sich zu bringen als alle anderen Technologiewellen davor, nicht nur für IT-Abteilungen, sondern für ein Unternehmen als ganzes.

Es war das Thema Vernetzung, das in den letzten zwei Jahrzehnten bereits einige Transformationen ausgelöst hat: Das Internet hat Unternehmen dazu gezwungen, ihr Geschäft auch über das Web abwickeln zu können, indem sie darüber ihre Lieferketten organisieren, mit Partnern kommunizieren, Kunden ansprechen und auch verkaufen. Smartphones haben Personen im täglichen Leben miteinander vernetzt und dadurch neue Kommunikationsformen und Geschäftsmodelle möglich gemacht.

Eco M2M
Die Technologie ist da, nur: Wo bleiben die Geschäftsmodelle? (Quelle: Eco-Verband)

Das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) hebt die Vernetzung nun auf eine neue Ebene, indem es Alltagsgegenstände untereinander kommunizierten lässt, gleichzeitig aber auch mit dem Nutzer und mit verschiedenen Cloud-Diensten. Dadurch ergibt sich eine Unzahl an Möglichkeiten, neue Kommunikationswege zu gestalten und neue Geschäftsmodelle aufzusetzen. Nicht jede dieser Möglichkeiten ist für den Nutzer sinnvoll und für ein Unternehmen gewinnbringend. Doch sie können aus Sicht der Firmen genauso wenig ignoriert werden wie die Möglichkeiten des Web. Schon hier hat die Erfahrung gezeigt: wer seine Chancen ignoriert, hat das Nachsehen.

Was von Unternehmen von jetzt an gefordert sein wird ist nichts geringeres, als sich selbst neu zu erfinden. Sie müssen es tun, denn Cloud-Dienste in Kombination mit mobilen Geräten und vernetzten Gegenständen verändern ihr komplettes Marktumfeld. In den USA lehrt eine vier Jahre alte Firma wie Airbnb der Hotelbranche das Fürchten und Uber zwingt das Taxigewerbe in die Knie. Unternehmen wie Daimler oder BMW sehen sich plötzlich dazu gezwungen, sich mit Googles Plänen über selbstfahrende Autos auseinanderzusetzen und fragen sich, ob sie genug Ressourcen in Sachen Software-Entwicklung im Haus haben, um mit einem potenziellen Wettbewerber aus dem Silicon Valley fertig zu werden.

Was bedeutet das alles für IT-Organisationen?

„Bei der letzten Digitalisierungswelle, die uns Technologien wie Social, Mobile, Cloud, Analytics und Embedded Devices beschert hat, wurde bereits lautstark nach der IT gerufen, um alle diese Technologien schnell ins Tagesgeschäft zu integrieren, damit sich das Unternehmen weiterentwickeln kann“, schreibt Guido Kamann, Leiter der CIO Advisory Services bei Capgemini Consulting, in seinem Blog. „Das Tempo, das verlangt wurde, war enorm und ich sage, dass es in Zukunft weiter steigt. Zeit zum durchatmen bleibt keine.“ Um sich nicht von den Fachabteilungen das Heft aus der Hand reißen zu lassen, die „immer häufiger IT per Cloud-Service einkaufen“, muss laut Kamann die Rolle der IT neu definiert werden. Vor allem müsse sie ihre Identität als unterstützende Einheit, die den Laden am laufen hält, erweitern um die Komponente eines „Zentrums der Digitalisierung“.

"Bimodale IT": In der dritten Phase der Unternehmens-IT muss digitale Kompetenz in den Fachabteilungen aufgebaut werden, um mehr innovation zu erreichen.
„Bimodale IT“: In der dritten Phase der Unternehmens-IT muss digitale Kompetenz in den Fachabteilungen aufgebaut werden, um mehr innovation zu erreichen.

Wie auch viele seiner Kollegen schlägt Kamann vor, eine zweite Einheit neben der auf den laufenden Betrieb fokussierten, traditionell strukturierten „Legacy IT“ aufzusetzen und sie mit der Unterstützung der Fachabteilungen bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu betrauen. Solche Grundstrukturen gehören für Gartner zur Voraussetzung, um die Weichen für die „dritte Phase der Unternehmens-IT“ zu stellen. Diese Phase, nach der technischen Beherrschung („Craftsmanship“) und der Industrialisierung der IT, nennt Gartner einfach „Digitalisierung“. Um sie zu meistern empfiehlt das Beratungshaus, die IT in drei Stufen zu transformieren.

Die erste Stufe besteht darin, die Kern-IT zu renovieren, um sie zukunftsfähig zu machen. Dazu gehören Dinge wie ein offeneres ERP-System; die Implementation privater und die Nutzung öffentlicher Clouds; eine Informationsarchitektur, die es möglich macht, Big Data zu nutzen; sowie eine Anreicherung des Sourcing-Modells für mehr Innovation. Die zweite Stufe sieht den Aufbau digitaler Kompetenz in den Fachbereichen durch die Schaffung neuer Management-Positionen vor.

Tolga Erdogan
Tolga Erdogan, Dimension Data: „Die Legacy-IT wurde bis jetzt wie eine Fertigungsstraße aufgesetzt.“

Die dritte Stufe der Transformation nennt Gartner den Aufbau einer „bimodalen IT“. Dabei beinhaltet der erste Modus das, was die IT normalerweise liefert, nämlich eine gut funktionierende, zuverlässige und sichere operative Basis. Modus 2 ist das, was ein Unternehmen fürs Wachstum braucht. In diesem Modus agiert die IT nichtlinear, nichtsequentiell und agil. Sie funktioniert hier wie ein Startup, das schnell auf technologische Neuerungen reagiert und sich diese im Sinne des Unternehmens zu Nutze macht.

„Die Legacy-IT wurde bis jetzt wie eine Fertigungsstraße aufgesetzt“, sagt Tolga Erdogan, Consulting-Chef beim IT-Dienstleister Dimension Data. „Einmal aufgebaut, sollte sie mehr oder weniger unverändert die nächsten fünf Jahre halten. Das geht jetzt nicht mehr weil sich die Innovationszyklen dramatisch verkürzt haben. Die IT muss sich flexibel und modular organisieren, um disruptive Technologien zu integrieren und entsprechende Services bereit zu stellen.“Erdogan  vergleicht die von Gartner empfohlene Zweiteilung mit dem Bereitstellen eines Schnellboots für die Entwicklung neben dem Tanker Legacy-IT, die für den Betrieb zuständig ist. „So erreicht die Organisation die notwendige Flexibilität, um parallel zum Betrieb neue Ideen ohne Risiko auszuprobieren“, so Erdogan.

„Den Zoo wieder einfangen“

So sehr der Startup-IT ein gewisses Maß an Narrenfreiheit gewährt werden muss, sollte die IT-Führung dafür sorgen, dass Neuentwicklungen sich in eine bestehende IT-Landschaft einfügen können. Angesichts der reichen Verfügbarkeit externer Cloud-Dienste und der zunehmenden Emanzipation der Fachabteilungen von der Unternehmens-IT, ist hier Gefahr im Verzug. „Die Anbieter verkaufen ihre Lösungen zunehmend direkt in die Fachbereiche, die IT muss den ‚Zoo‘ hinterher oft wieder einfangen“, sagt Patrick Quellmalz vom IT-Anwenderverband VOICE. Hier müsse die IT ihre Fähigkeiten für die Kommunikation und Überzeugungskraft wiedergewinnen, um dem Business die eigene Potenziale und Lösungen zu vermitteln.

Patrick Quellmalz, VOICE: "Die IT muss den 'Zoo' hinterher oft wieder einfangen."
Patrick Quellmalz, VOICE: „Die IT muss den ‚Zoo‘ hinterher oft wieder einfangen.“

„Unternehmen erkennen, dass die Integration dynamischer Lösungen – sprich IT der nächsten Generation – entscheidend ist, wissen aber häufig nicht, wie diese Integration aussehen soll“ muss Tolga Erdogan zugeben. Denn die IT-Strategie müsse eng an der gesamtwirtschaftlichen Strategie des Unternehmens ausgerichtet sein und gleichzeitig die bestehende Infrastruktur sinnvoll ergänzen. Erdogan propagiert ein IT-as-a-Service-Modell, das Unternehmen mehr Freiraum für ihr Kerngeschäft und Innovationen verschaffen soll, weil es die Unternehmens-IT hin zu einer flexibleren, bedarfsgerechteren und sichereren Umgebung entwickelt. Das Service-Modell soll allerdings nicht am Firmeneingang aufhören. „Auch klassische Betriebsleistungen, Beratung und Outsourcing spielen eine Rolle. Im richtigen Mix und professionell implementiert sind IT-as-a-Service-Modelle ein Turbo für die Digitale Transformation in den Unternehmen.“

Damit Innovation in einem geordneten Rahmen stattfinden kann, braucht es die richtige IT-Architektur, die seitens der Unternehmens-IT vorgegeben werden muss, sagt Johannes Helbig, ehemals Chief Innovation Officer bei der Deutschen Post und jetzt Vorstandsvorsitzender beim SOA Innovation Lab. „Wo Wertschöpfungsnetzwerke über Unternehmensgrenzen hinweg neu verknüpft werden sollen, erleben modulare, service-orientierte Architekturkonzepte als Voraussetzung gerade eine Renaissance.“

Es wird nicht einfacher: Auf dem Weg zum Internet der Dinge und Industrie 4.0 müssen viele Technologien miteinander harmonieren. (Quelle: Bitkom)
Es wird nicht einfacher: Auf dem Weg zum Internet der Dinge und Industrie 4.0 müssen viele Technologien miteinander harmonieren. (Quelle: Bitkom)

Dass die Aufgabe, eine solche kohärente IT-Architektur zu schaffen, nicht ganz einfach ist, will auch Helbig nicht bestreiten. Als sei die Orchestrierung der hauseigenen Anwendungen nicht schon schwierig genug, muss diese Architektur auch das Zusammenspiel von internen und externen Cloud-Diensten in den Griff bekommen. „Hier gibt es seitens der Anbieter noch einiges zu tun, vor allem in Sachen Semantik, also der Beschreibung der Funktionen, der Granularität, und der Kombinierbarkeit von Cloud-Diensten“, sagt Helbig.

Diese Nachricht ist bei der IT-Industrie längst angekommen. Firmen wie Salesforce widmen einen großen Teil ihres Entwicklungsbudgets für die Entwicklung von Schnittstellen (APIs) zwischen den vielen eigenen Produkten und der Vielzahl von Softwareprodukten, die bei Anwendern im Einsatz ist. Doch gut Ding scheint noch eine Weile zu brauchen, besonders wenn man in Betracht zieht, dass Cloud Computing als Technologie im Grunde noch am Anfang steht. Als wegweisendes Produkt in diesem Kontext könnte sich die Hybrid Cloud Solution for Microsoft Azure erweisen, die neulich von Accenture und Microsoft gemeinsam auf den Markt gebracht wurde. Sie kombiniert hauseigene Anwendungen mit solchen, die aus der Microsoft-Cloud bezogen werden, und verwaltet sie über dasselbe Dashboard.

Titelfoto: odhiambo via Freeimages

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