Digitale Verdummung: Verlernen wir gerade das Denken?

Wozu noch denken? Wikipedia weiß eh alles, Google findet was wir suchen und Facebook weiß genau, was uns gefällt. Dumm nur: Die Fähigkeit zu denken stand in der Arbeitswelt noch nie so hoch im Kurs wie gerade jetzt durch die Digitalisierung. 

Es gibt keinen Weg mehr zurück. Wir verbringen einen Großteil unserer Wachzeit damit, in irgendeinem Bildschirm zu schauen und mit digitaler Technologie zu interagieren, und das wird sich in den nächsten Jahren kaum ändern. Dass digitale Technik süchtig macht und dieses Verhalten sich nicht gerade zu unserem Vorteil auswirkt, ist seit vielen Jahren bekannt. Nicht ohne Grund statten Smartphone-Hersteller wie Apple ihre Geräte inzwischen mit Funktionen wie „Bildschirmzeit“ aus, die uns einmal pro Woche einen Spiegel vorhalten in der Hoffnung, unsere Gewohnheiten wenigstens hin und wieder kritisch zu hinterfragen.

Schneller und produktiver heißt nicht unbedingt schlauer.

Psychologen und Hirnforscher können immer noch nicht genau nachvollziehen, auf welche Weise das Internet und digitale Geräte unsere Wahrnehmung beeinflussen. Sehr wohl registrieren sie aber, dass sie Auswirkungen auf unser Konzentrationsvermögen, unser Gedächtnis und unser Sozialverhalten haben. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir nicht lange in unserem Gedächtnis kramen, um diese Erkenntnis zu bestätigen. 

Weniger bewusst ist den meisten von uns die Tatsache, dass all die digital verursachten Verhaltensänderungen auch unser Denkvermögen beeinflussen, und das meist negativ. Hochkonjunktur haben derzeit Bücher, die sich mit den Auswirkungen auseinandersetzen und uns helfen sollen, einerseits unser Hirn besser einzusetzen (z.B. The Leading Brain: Neuroscience Hacks to Work Smarter, Better, Happier), andererseits es besser von der digitalen Welt zu schützen (z.B. How to Do Nothing: Resisting the Attention Economy). Höchste Zeit, ein paar der schlimmsten digitalen Übeltätern beim Namen zu nennen.  

Digitale Krücken

Ganz ehrlich: Sind Sie sicher, dass Sie immer noch Ihr Auto ohne elektronische Hilfe problemlos in eine enge Parklücke bekommen? Falls nicht, haben Sie das Gefühl für die Größe Ihres Fahrzeugs eingebüßt. Nur ist das, was wir hier als „Gefühl“ bezeichnen würden, in Wirklichkeit ein genaueres Wissen über die Außenmaße Ihres Fahrzeugs, das Sie über die Nutzung aufgebaut haben.

Wikipedia, Google, Online-Übersetzer, Wissensdatenbanken und andere digitale Hilfsmittel haben eine ähnliche Wirkung. Sie liefern uns schnell Informationen, wir setzen sie ebenso schnell ein, kommen schneller ans Ziel und sind dadurch vermeintlich produktiver. Gleichzeitig halten sie uns aber davon ab, Informationen zu hinterfragen, Zusammenhänge zu entdecken und ein tieferes Wissen aufzubauen. Die Gefahr: Wir gewöhnen uns an, geleitet zu werden satt selbst zu denken.

Wenn wir ein paar Wochen später gefragt werden, warum wir ein bestimmtes Problem so und nicht anders gelöst haben, wissen wir es oft nicht mehr oder müssen erkennen, dass wir in unserer Absicht, produktiv zu sein und schnell ans Ziel zu kommen, etwas nicht zu Ende gedacht haben. Vor allem aber haben wir uns nicht die Zeit gegönnt, etwas zu lernen, was wir später sinnvoll einsetzen könnten.

Digitale Bulimie

Das Internet, digitale Medien und soziale Netzwerke haben dazu beigetragen, dass wie uns häufig wie digitale Junkies verhalten, weil sie informativ und unterhaltsam sind. Die Aufnahme von Inhalten, die wir als nützlich oder einfach unterhaltsam betrachten, aktiviert das Belohnungssystem in unserem Gehirn und wir können davon kaum genug kriegen. Facebook und Twitter haben genau diese Mechanismen sogar von Anfang an im Visier gehabt, wie Investoren der ersten Stunde vor einiger Zeit zugaben. Die Gefahr: wir werden dazu konditioniert, auf Reize und Input zu reagieren statt selbst zu agieren.

Unser Gehirn ist ein Computer mit nur einem Prozessor, der sequentiell verarbeitet.

Dieses Verhalten hat ein Stück weit auch auf unsere Arbeitsweise abgefärbt, meist verkleidet als Multitasking. Viele Digital Natives rühmen sich gerne damit, dass sie gut „multitasken“ können. Äußere Kennzeichen: Auf dem Rechner sind mehrere Programme, Browser-Fenster und Tabs geöffnet, man hält sich nicht lange mit einer Aufgabe auf und ist leicht abzulenken.

Unser Gehirn funktioniert aber eher wie ein Computer mit nur einem Prozessor, der alle Aufgaben sequentiell, also nacheinander verarbeitet. Was wir als Multitasking bezeichnen, ist nicht viel mehr als eine sequentielle, aber oberflächliche Beschäftigung mit Aufgaben, die uns nicht allzu viel abverlangen. Auf diese Weise bekommen wir gerne den Eindruck, mehrere Dinge gleichzeitig erledigen oder schnell umzuschalten zu können. In Wirklichkeit wird nur das oben erwähnte Belohnungssystem bedient, um einer intensiveren Beschäftigung mit aufwändigeren Aufgabe aus dem Weg zu gehen oder hinauszuschieben.

Das Arbeiten auf einem hohen Konzentrationsniveau – und genau dorthin entwickelt sich digitale Arbeit gerade – verträgt aber keine schnellen Umschaltvorgänge. Eine komplexe Aufgabe abzuschließen und sich in eine neue hineinzudenken gehört zu den anspruchsvollsten Hirntätigkeiten überhaupt und ist nicht nach Belieben mehrmals am Tag machbar. Deswegen sollten wir am besten erst gar nicht von uns selbst erwarten, Multitasking-fähig zu sein, und unsere Ressourcen klüger verteilen. 

Analoge Helfer

Gönnen Sie Ihrem Gehirn Zeit zur Erholung. Die Nutzung digitaler Geräte und des Internets beansprucht mittlerweile einen großen Teil jener Zeit, die wir früher einfach nur zur Erholung genutzt haben. Die pausenlose Aufnahme von Informationen lässt unser Hirn aber nicht zur Ruhe kommen und irgendwann sind die Symptome deutlich zu spüren. Spätestens dann sollten wir uns eine digitale Entgiftung (Digital Detox) gönnen und spazieren gehen, uns mit echten Menschen austauschen oder einfach nur Löcher in die Luft gucken. Inaktivität bietet unserem Hirn die Gelegenheit, aufgenommenes zu verarbeiten und wieder einen Zustand zu erreichen, in dem es wieder neue Aufgaben übernehmen kann, und zwar bereitwillig!

Lesen Sie auf Papier und machen Sie Notizen. Klar, moderne Tablets und elektronische Stifte sind inzwischen verdammt gut und Hilfsmittel wie LiquidText bieten einem Möglichkeiten, die Papier sehr alt aussehen lassen. Aber sind wir auch diszipliniert genug, um nicht zwischendurch immer wieder unserer digitalen Bulimie zu erliegen? Eine der fortschrittlichsten Privatschulen in Australien sorgte vor einiger Zeit für Aufsehen, als sie ihre iPads wieder in den Schrank verschwinden ließ – auf Verlangen der Schüler! Letztere hatten herausgefunden, dass sie sich mit normalen Schulbüchern besser aufs Lernen konzentrieren konnten.

Schreiben Sie wieder mehr auf Papier. Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass bestimmte Hirnregionen viel besser stimuliert werden, wenn vor allem beim Verarbeiten neuer Informationen Papier und Stift verwendet werden.  Auch zeigt sich in mehreren psychologischen Studien, dass handschriftliche Notizen sowohl bei Kindern wie auch bei Erwachsenen dazu führen, dass Informationen länger erinnert, Gedanken besser geordnet und dass generell mehr Ideen entwickelt werden.

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