Homeoffice macht produktiv – aber macht es auch glücklich?
Etwas besseres als Corona hätte dem Thema Homeoffice kaum in die Hände spielen können. Doch die damit eingeläutete Workplace-Reform droht zu scheitern, wenn Unternehmen den menschlichen Faktor außer Acht lassen.
Ein Zurück zu den Arbeitsverhältnissen vor Corona scheint ausgeschlossen. In den vergangenen 15 Monaten dürfte praktisch jeder Arbeitende, der seinen Job mithilfe eines Computers erledigt, auf einen extensiven Testlauf mit dem Arbeitsort Homeoffice zurückblicken können. Und die überwiegende Mehrheit möchte die Erfahrung auch in Zukunft nicht missen. Laut einer weltweiten Umfrage von Avaya fühlen sich zwei Drittel insgesamt glücklicher, wenn sie (auch) im Homeoffice arbeiten dürfen.
Die Betonung liegt dabei auf das Wörtchen „auch“. Zwar berichten die meisten von einer erhöhten Produktivität und einer besseren Work/Life-Balance (wenn nicht gerade Themen wie Homeschooling im Weg stehen), doch die erzwungene Homeoffice-Situation und das dauerhafte ausschließliche Arbeiten in den eigenen Wänden haben auch Opfer gefordert. Laut Avaya-Umfrage fühlen sich 39 Prozent der Befragten in Deutschland gefangen in ihrer täglichen Routine, 28 Prozent betrachteten sich inzwischen sogar als Workaholics. Eine Gartner-Umfrage bestätigt die angespannte Stimmung: 69 Prozent fühlen sich gestresst, 62 Prozent ausgebrannt, 55 Prozent vereinsamt.
Wohlbefinden motiviert
Man könnte die betrübte Stimmungslage durchaus als temporär betrachten, als Momentaufnahme am Ende eines langen Lockdown-Winters, die sich im Laufe des Sommers wieder aufhellt – wäre da nicht die auffallend unterschiedliche Einschätzung der Situation zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften. So wünschen sich laut einer Umfrage von IDC im Auftrag von Unisys 66 Prozent der Beschäftigten familienfreundliche Arbeitsbedingungen, aber nur 49 Prozent der Arbeitgeber sehen diesen Punkt als wichtig an. Stattdessen legt die Hälfte der Unternehmen hauptsächlich Wert auf eine gute technischen Ausstattung – und ist damit nur mit 43 Prozent der Mitarbeiter auf derselben Wellenlänge.
Wie wichtig das Wohnbefinden der Mitarbeitenden für ihre Produktivität ist, wird von Unternehmen gerne ignoriert. Ebenso die Bedeutung von Regelungen, die eine gute Work/Life-Balance unterstützen, für das Anlocken und Halten von Fachkräften. Der Anbieter von HR-Software Workday hat jüngst herausgefunden, dass die Isolation im Homeoffice und die Kontaktbeschränkungen zu Kollegen vor allem die jüngere Generation zwischen 18 und 34 schwer zu schaffen machen. Fast 40 Prozent der jungen Arbeitskräfte fühlen sich antriebslos, jede/r vierte ist auf der Suche nach einem neuen Job.
Das sind keine temporären Probleme
Viele dieser Probleme können kurzfristig wieder behoben werden, sei es durch Intensivierung des Kontakts mit Mitarbeitenden, die eine lange Zeit im Homeoffice verbracht haben, durch mehr Zeit für den persönlichen Kontakt oder durch intensivere Projektarbeit in der Gruppe im Büro, sobald die Rahmenbedingungen es wieder erlauben. Doch Unternehmen wären hier gut beraten, längerfristig zu denken.
„Es wird entscheidend sein, sowohl die Mitarbeitenden zu unterstützen, die wieder in Vollzeit ins Büro zurückkehren wollen, als auch diejenigen, die weiterhin von zu Hause aus arbeiten oder eine Mischung aus beiden wollen“, sagt Kevin Turner, EMEA Digital Workplace Strategy Lead bei Unisys. „Es ist schwierig, kleine Signale und Körpersprache wahrzunehmen, wenn man die Kollegen nicht von Angesicht zu Angesicht trifft. Daher müssen wir für die Zukunft Arbeitsräume schaffen, der alle Mitarbeiter unabhängig von ihrem Standort einschließen.“
Der Erfolg der Technik hängt von der Kultur ab
Das Wohlbefinden der Mitarbeiter sei dabei ein entscheidender Faktor und im vergangenen Jahr sei allen bewusst geworden, wie wichtig es ist, eine Kultur der Unterstützung und der Offenheit zu fördern. „Viele fortschrittliche Unternehmen haben dies zum Anlass genommen, ihre Richtlinien zu aktualisieren“ berichtet Turner. Obwohl es schwierig sei, weiche Faktoren wie Mitarbeiterzufriedenheit zu messen, müsste hierfür dennoch ein Index geschaffen werden, sei es durch Umfragen, Feedback- oder Analyse-Tools. „Letztlich geht es darum, den Mitarbeitern zuzuhören, zu berücksichtigen, was sie wollen und brauchen, und die Unternehmenskultur zu stärken.“
„Die letzten 12 Monate waren ein riesiges Experiment für die Erkundung radikaler Flexibilität.“ Michael Woodbridge, Gartner
Dass die technischen Hilfsmittel von einer neuen Führungskultur geleitet werden müssen, versteht sich dabei von selbst. „Die Führung der Zukunft wird sich auf die Befähigung der Mitarbeiter konzentrieren“, sagt Turner. Auf dem Weg in eine immer stärker digitalisierte Welt seien mehr denn je Führungskräfte mit menschlichen Stärken gefragt. „Führungskräfte müssen ansprechbar sein, Mitgefühl und Verständnis mitbringen. Gleichzeitig sollen sie Mitarbeitern sowohl die Freiheit als auch die Werkzeuge geben, die sie für ihre Arbeit benötigen. Organisationen, die eine Unternehmenskultur pflegen, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut, werden die besten Ergebnisse sehen.“
Beim Thema Vertrauen müssen viele Unternehmen erst noch über den eigenen Schatten springen – besonders wenn Experten wie die von Gartner ihnen empfehlen, ihren Angestellten „radikale Flexibilität“ zu gewähren. „Radikale Flexibilität bedeutet nicht, dass Mitarbeiter morgens aufwachen und sich Gedanken darüber machen, wieviel sie heute arbeiten wollen“, sagte Michael Woodbridge, Research Director für das Thema Digital Workplace bei Gartner, bei seiner Eröffnungsrede zur diesjährigen Digital Workplace Summit.
Keine Angst vor radikaler Flexibilität
„Es geht vielmehr um eine Neudefinition von Rollen und Tätigkeiten. Das gibt einerseits dem Unternehmen genau die Ressourcen, die es gerade braucht; andererseits erlaubt es Mitarbeitenden, das zu tun, wofür sie die beste Fähigkeiten besitzen.“ Genau das sei in den letzten 12 Monaten praktiziert worden – notgedrungen. Die Angst, dass dadurch die Produktivität sinken würde, ergab sich dabei als unbegründet.
Genau das Gegenteil sei der Fall. Nach Erkenntnissen von Gartner liegt die Prozentzahl von High-Performen unter den Mitarbeitenden, die Regelarbeitszeiten folgen, bei 36 Prozent. Unter denen, die radikale Flexibilität genießen, liegt die Prozentzahl an High-Performern jedoch bei 55 Prozent. Ähnlich sind die Ergebnisse beim Thema Arbeitsmittel. Unter den Mitarbeitenden, die eine Karriere innerhalb des Unternehmens anstreben, liegt die Prozentzahl derer, die mit selbst ausgesuchten Tools arbeiten (die zuvor von der IT genehmigt wurden), bei 52 Prozent. Unter denen, die eine Karriere außerhalb des aktuellen Arbeitgebers anstreben, liegt dieser Anteil bei 30 Prozent.
„Angestellte, die in der eigenen Organisation glücklich sind, leben ihre radikale Flexibilität aus. Sie arbeiten nicht nur wo, wann und wie lange sie wollen, sondern auch mit den Tools, die sie selbst ausgesucht haben“, fasst Woodbridge zusammen. „Man könnte die letzten 12 Monate als ein riesiges Experiment für die Erkundung radikaler Flexibilität sehen und jetzt können wir erkennen, was gut funktioniert und was nicht.“