Zwischen Fortschritt und Dystopie: Digitale Coaching-Formate erobern den Markt

Die Digitalisierung sorgt auch in der Coaching-Szene für Veränderungen und Umbrüche Auf welche möglichen Szenarien müssen sich Coaches und ihre Klient:innen einstellen? Dr. Alexander Brungs, Vorstandsmitglied des Deutschen Coaching Verbandes (DCV e.V.), liefert Einblicke in die (neue) Coaching-Welt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Coaching-Landschaft enorm verändert und befindet sich bis heute in einem kontinuierlichen Wandel. Coaching ist mittlerweile in vielen deutschen Unternehmen zu einem wichtigen Eckpfeiler der Personalentwicklung geworden. Die stetig steigende Nachfrage an Coaching-Angeboten ist unter anderem der Implementierung des mit fortschreitender Digitalisierung verbundenen „New Work“ geschuldet: Durch sie ändern sich die Bedingungen und Anforderungen für Arbeits- und Führungsroutinen. 

Anbieter, die weiterhin auf Coaching „von der Stange“ setzen, laufen Gefahr, von Künstlichen Intelligenzen und Algorithmen verdrängt zu werden.

Doch auch die Coaching-Branche unterliegt dem digitalen Wandel – und das zieht weitreichende Konsequenzen nach sich: So wird eine Entwicklung zu beobachten sein, die – vordergründig als Demokratisierung beworben – als Discountisierung des Coachings ausgelegt werden kann. Die Wachstumsbedingungen für verschiedene digitale Coaching-Formate und -anbieter, die auf neue Geschäftsmodelle bauen, sind gut. Einige von ihnen werden sicherlich auf dem Markt Fuß fassen und sich etablieren können. In der Konsequenz werden Standard-Coaching-Angebote zukünftig sowohl günstiger als auch niederschwellig zugänglich werden – was sich jedoch auf den zweiten Blick als Nachteil für Coaches und ihre Klient:innen herausstellen könnte. 

KI-basierte Coachings: Algorithmus statt Coach? 

So blenden viele digitale Anbieter ihre potentiellen Klient:innen mit einer schönen „Verpackung“, indem sie ein hochwertiges und innovatives digitales Coaching-Erlebnis versprechen. Fakt ist jedoch, dass auch diese neuen Anbieter das Coaching nicht grundlegend neu erfinden können. Zudem ist noch gar nicht absehbar, welche Thematiken auf welche Weise tatsächlich in nachhaltiger Weise digital behandelt werden können. Zu Risiken und Vorzügen des virtuellen Coachings existieren bislang zu wenig valide Studien und Erfahrungswerte, sodass mit Sicherheit noch einige Zeit vergehen wird, bis hierzu fundierte Einschätzungen abgegeben werden können. Bis dahin bleibt zu bezweifeln, dass all die vollmundigen Versprechen, mit denen virtuelle Angebote locken, wirklich gehalten werden können. 

Zwar bestätigen sowohl punktuell erfolgreiche, spezialisierte Anwendungen als auch einige Forschungsergebnisse, dass die Umsetzung von Coaching-Prozessen mithilfe Künstlicher Intelligenz durchaus realisierbar ist. Daher wird die Coaching-Landschaft künftig zunehmend auch von einem Spannungsfeld zwischen Face-to-Face-Coaching und Algorithmisierung geprägt sein. Die gute Nachricht für alle, die in nicht allzu ferner Zukunft auf vollautomatisierte Angebote spekulieren, ist, dass entsprechende Plattformen und Formate laufend besser werden. 

Auch Anbieter von „innovativen digitalen Coaching-Erlebnissen“ werden das Coaching nicht neu erfinden können.

Doch auch diese Angebote werden weiterhin kein individuelles, persönlichkeitsorientiertes Coaching ersetzen können. Denn nur gutes, optimalerweise zertifiziertes Coaching von Person zu Person ist in der Lage, dialogisch angemessen arbeits- und lebensweltliche Thematiken zu reflektieren und empathisch auf Bedürfnisse Einzelner einzugehen. Ganz im Gegensatz zu einer KI, deren Interaktion zwangsläufig einem standardisierten Vorgehen nahekommt, insofern sie sich auf das stützt, was in einer Vielzahl von bereits gelaufenen Prozessen gleich ist. Das muss für sich genommen nicht schlecht sein (auch Menschen bedienen sich ja in vergleichbarer Weise gewonnenen Erfahrungswissens), doch ist es eben genau nicht das, was das je Eigentümliche betrifft.

Kann der persönliche Austausch maschinell ersetzt werden?

Das bedeutet auch, dass Experten, deren Trainings und Coachings auf den Elementen ein und desselben „Baukastens“ fußen, zukünftig Probleme damit haben werden, ihre Angebote attraktiv zu halten, da sich ihre Ansätze größtenteils eben solcher standardisierter Verfahren bedienen, welche KI-gestützte Formate schon sehr bald besser werden abbilden können. Sprich: Anbieter, die weiterhin auf Coaching „von der Stange“ setzen, laufen Gefahr, von Künstlichen Intelligenzen und Algorithmen verdrängt zu werden.

Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass der technische Fortschritt auch Vorteile mit sich bringt. Durch ihn gestaltet sich beispielsweise der Zugang zu Coaching-Angeboten sehr viel einfacher, und sicherlich ist er auch in manchen Bereichen einer transparenteren und einfacheren Qualitätssicherung zuträglich. Algorithmisierung hat also durchaus sinnvolle und gewinnbringende Aspekte. 

Die Medizin setzt auf Individualisierung – Coaching auf Standardisierung?

Dennoch ist es in diesem Zusammenhang immer wieder wichtig zu betonen, dass es beim erfolgreichen Coaching im Kern immer um einen persönlichen Austausch von Individuen geht, der nicht adäquat ersetzt werden kann. Würden wir den elementaren zwischenmenschlichen Faktor ausblenden wollen, wäre dies eher ein Rückschritt als ein Fortschritt im Werkzeugbestand der Personalentwicklung. Hart gesprochen, liegt ein wenig Ironie darin, wenn wir in einer Zeit, in der der medizinische Fortschritt vermehrt auf tiefere Individualisierung von Therapien und Medikamenten abzielt, zugleich eine Standardisierung und Verallgemeinerung in der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung befeuern würden.

Weiterhin essenziell: Face-to-face-Coaching

Kernelement eines erfolgreichen Coaching-Prozesses ist und bleibt die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung von Coach und Coachee. Damit erscheint es auch fraglich, ob über einen ausschließlich im virtuellen Raum stattfindenden Austausch eine gleichwertige Vertrauensbasis wie bei einem klassischen Coaching vor Ort hergestellt werden kann. Durch die zunehmende Virtualisierung im Alltag wird das Bedürfnis nach bedeutsamen realen Begegnungen wohl eher steigen und so auch die Vorzüge des klassischen Face-to-Face-Coachings noch deutlicher in den Vordergrund rücken. 

In einem Punkt sind sich die im Zuge neuerer Studien zur Zukunft des Coachings befragten Coaches übrigens einig: Menschen, die grundsätzlich in ihre persönliche Entwicklung und ihre allgemeine Lebenszufriedenheit investieren wollen, werden zukünftig dazu bereit sein, mehr Mittel aufzuwenden, um sich einer individuellen und persönlichen Coaching-Beziehung zu versichern. Mit dem Voranschreiten der Virtualisierung und Digitalisierung wird sich dieser Effekt zunehmend verstärken.

Bestimmte Themen werden vielleicht schwerpunktmäßig im virtuellen Raum gecoacht werden.

Zugleich wird die Nutzung spezialisierter digitaler Plattformen für die Durchführung von Coaching-Prozessen oder auch die Vermittlung von Coaches an potenzielle Coachees stärker verbreitet sein. Bestimmte gut eingrenzbare Anliegen und Themen werden vielleicht schwerpunktmäßig im virtuellen Raum gecoacht werden. Sollte es sich jedoch, was eher Regel als Ausnahme ist, um komplexere Angelegenheiten wie Fragen zur Unternehmensführung oder Team-Kommunikation handeln, bleiben Face-to-Face- oder zumindest hybride Coachings nach wie vor das Mittel der Wahl.

Qualitätsnachweise und Unabhängigkeit bleiben das A und O

Neben der großen Relevanz der persönlichen empfundenen zwischenmenschlichen „Stimmigkeit“ von Coach und Coachee ist ein weiterer Faktor von Bedeutung für die Auswahl von Coaches deren fachliche Qualifikation. Gibt es jedoch handhabbare Kriterien, um diese festzustellen? Für das inhaltlich größtenteils gesetzlich ungeregelte Tätigkeitsfeld des Coachings existieren bislang keine staatlich regulierten Prüfinstitutionen, die interessenunabhängig für die Qualität von Anbietern für Coaching-Dienstleistungen bürgen könnten. Da sich aber natürlich niemand selbst ein kritisches Zeugnis ausstellen würde, liegt es auf der Hand, dass sich Coaching-Anbieter nur bedingt als Garanten objektiver Qualitätssicherung eignen. 

Eine objektivere Einschätzung kann ausschließlich von einer unabhängigen Instanz geleistet werden, die in mehrdimensionalen Verfahren transparent nach aktuellem Stand des Wissens prüft. Dies garantieren die von unabhängigen und seriösen Coaching-Verbänden wie dem Deutschen Coaching Verband e.V. (DCV) ausgestellten Zertifikate, deren Relevanz weiter steigen wird, je größer und dynamischer der Markt für Coachingangebote wird.


Über den Autor

Über den Autor

Dr. Alexander Brungs ist seit 2010 als Coach tätig und seit sieben Jahren Vorstand im Deutschen Coaching Verband e.V. (DCV). Nach seinem Studium in Göttingen, Erlangen und Rom war Brungs an mehreren internationalen Forschungsprojekten beteiligt und unterrichtete an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz im Fach Philosophie. Derzeit ist er auch Projektmitarbeiter an der Professur für Neuere Geschichte (deutsch-jüdische Geschichte) der Universität Potsdam.

 

 

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