KI im Mittelstand: Zwischen Riesenchance und Mission Impossible

Künstliche Intelligenz soll die Industrie noch nachhaltiger verändern als die Digitalisierung und bietet auch mittelständischen Firmen große Chancen, ihre Produkte und internen Prozesse auf eine neue Basis zu stellen. Doch so einfach sind diese Chancen nicht zu nutzen.

„Verschläft der Mittelstand seine Zukunft?“ Solche und ähnlich alarmistische Schlagzeilen bekam man in den letzten Jahren zuhauf von den Medien serviert, wenn es um die Digitalisierung ging, vielleicht sogar zu Recht. In dieser Disziplin war der deutsche Mittelstand bisher eher ein Nachzügler als ein Vorreiter. Inzwischen ist er nach Einschätzung des Digitalverbands Bitkom ganz gut dabei. Beispiel Dokumentenmanagement: Nach einer neuen repräsentativen Erhebung des Verbands organisiert und verwaltet knapp die Hälfte der Unternehmen mit 20 bis 499 Mitarbeitern seine Dokumente digital, 58 Prozent von ihnen sogar in der Cloud.

Nutzung Künstlicher Intelligenz in Deutschland. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)
Nutzung Künstlicher Intelligenz in Deutschland. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)

Mit der Nutzung von Künstlicher Intelligenz ist es noch nicht ganz so weit gediehen. Einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie des Bundeswirtschaftsministeriums zufolge haben momentan erst 3 Prozent der mittelständischen Unternehmen KI-Anwendungen im Einsatz. Das betrifft sowohl die von den Unternehmen selbst entwickelten Lösungen für die eigenen Prozesse, Produkte oder Services (aktive KI-Nutzung), als auch vorkonfigurierte KI-Dienste von Drittanbietern (passive KI-Nutzung). Das Ministerium erwartet aber, dass diese Zahl in den nächsten drastisch steigt (siehe Grafik). 

Anwendungsbereiche satt

Anwendungsgebiete für die KI gibt es reichlich. Vor allem überall dort, wo größere Datenmengen und Texte im Spiel sind, kann Künstliche Intelligenz Kontexte und Zusammenhänge erkennen und dadurch Erkenntnisse vermitteln, Sachbearbeitungen automatisieren und Prozesse beschleunigen. Solche Anwendungen sortieren beispielsweise für Personalabteilungen Bewerbungen vor oder identifizieren passende Kandidaten unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation. In Versicherungsunternehmen werden Versicherungsfälle (vor-)bearbeitet. Anwälte nutzen KI-Produkte, um Verträge auf Lücken hin zu analysieren oder die Erfolgswahrscheinlichkeit möglicher Klagen einzuschätzen.

Drüber hinaus wird Künstliche Intelligenz in der Automatisierung von Prozessen und in der Qualitätssicherung  eingesetzt. KI kann beispielsweise Röntgenbilder detailreicher analysieren als das menschliche Auge und damit Radiologen helfen, Krebsgeschwüre besser zu erkennen. Oder in einem Kundenmanagement-System (CRM) Verhaltensmuster von Kunden erkennen und damit den Verkaufsprozess optimieren. Oder komplette Produktionsanlagen analysieren und erkennen, welche Materialien mit welchen Maschinen und Herstellungsverfahren am besten harmonieren und damit die Produktion optimieren.

Mögliche KI-Einsatzgebiete für den Mittelstand. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)
Mögliche KI-Einsatzgebiete für den Mittelstand. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)

Wer soll’s denn machen?

Trotzdem wird es mit der Adaption von KI in mittelständischen Firmen nicht so schnell gehen, wie sich vor allem die IT-Industrie erhofft, und das hat gute Gründe, allen voran den Fachkräftemangel. Stolze 82.000 IT-Stellen waren Ende letzten Jahres laut Bitkom unbesetzt, Tendenz weiter steigend. Bitkom-Chef Achim Berg sieht inzwischen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als gefährdet und fordert größere Anstrengungen in Richtung qualifizierte Zuwanderung.

Mittelständische Firmen haben zudem das Problem, dass sie für viele Fachkräfte unsexy sind im Sinne, dass letztere bessere Karrierechancen in größeren Unternehmen haben plus die Möglichkeit, dort mehr dazuzulernen und sich persönlich besser zu entwickeln. Im Mittelstand müssten sie hingegen oft Pionierarbeit leisten, teilweise gegen den Widerstand der alteingesessenen Mannschaft.

Ein weiteres Hindernis liegt in der bis dahin eingesetzten Technik. Künstliche Intelligenz braucht viele Daten, am besten in Form einer möglichst homogenen und auf einfache Weise zugänglichen Datenbasis. Diese fehlt noch bei vielen Mittelständlern, deren IT noch in Form von einzelnen Anwendungen organisiert ist, die jede für sich ein eigenes Datensilo unterhält. Zumindest sorgen inzwischen zwei Faktoren für Besserung auf diesem Gebiet, zum einen die Verbreitung von Analytics, zum anderen die letztes Jahr in Kraft getretene DSGVO. Der Zwang, den eigenen Bestand an personenbezogenen Daten aufzuräumen, hat viele Firmen dazu gebracht, auch mit der übrigen Datenbasis klar Schiff zu machen.

Was den Einsatz Künstlicher Intelligenz momentan verhindert. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)
Was den Einsatz Künstlicher Intelligenz momentan verhindert. (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie)

Prozessoptimierung ist nicht kriegsentscheidend

Eine weitere Hürde liegt in der Verfügbarkeit mittelstandsgerechter Produkte. Der Mittelstand konzentriert seine Ressourcen am liebsten rund um die umsatzkritischen Einheiten des Unternehmens, sprich Entwicklung, Herstellung und Verkauf der eigenen Produkte. Künstliche Intelligenz im Sinne von Eigenentwicklungen hat beim Mittelstand erst dann wirklich eine Chance, wenn sie kritisch für die Weiterentwicklung der Produkte ist. Nur braucht diese eben das Fachwissen und die personellen Ressourcen, die heute dem Arbeitsmarkt fehlen.

Die Optimierung der Internen Abläufe oder der Kommunikation mit dem Kunden mag zwar Einsparungen bringen. Der Mittelstand ist es aber gewohnt, solche Probleme über den Kauf von Produkten zu lösen, die nach ihrer Installation wenig Aufmerksamkeit vom eigenen Personal brauchen – nur so rechnen sich Investitionen in diesem Bereich. Betrachtet man die heute verfügbaren „schlüsselfertigen“ KI-Produkte, wird klar, dass sie überwiegend auf solche Optimierungseffekte abzielen, mit deren Finanzierung sich der Mittelstand traditionell schwer tut.

KI kommt indirekt in die Anwendungen

An dieser Stelle muss auch die Frage gestellt werden, wie mittelstandsgerecht heutige KI-Produkte überhaupt sind. Von den reinrassigen KI-Anwendungen wohl eher die wenigsten. Künstliche Intelligenz hat zum jetzigen Zeitpunkt deswegen eher eine realistischere Chance, auch beim den Mittelstand Einzug zu halten, wenn sie als Bestandteil von Produkten kommt, die für den Mittelstand zugeschnitten sind und deren Anschaffung tatsächlich anliegt. Im Zuge der Neugestaltung oder Automatisierung der eigenen Abläufe könnten das beispielsweise Software und Cloud-Dienste fürs Finanzwesen, Personalwesen, Kundenbeziehungsmanagement (CRM) oder für die  Warenwirtschaft (ERP) sein.

Sind KI-Produkte überhaupt schon mittelstandsreif?

Es gibt allerdings eine Kategorie deutscher Unternehmen, die Künstliche Intelligenz unbedingt auf dem Radar haben sollten, denn für sie ist KI tatsächlich essentiell für die Weiterentwicklung ihrer Produkte. Die Rede ist von all den mittelständischen deutschen Softwareherstellern, die traditionell den Mittelstand mit Produkten der oben erwähnten Gattungen beliefern. Sie müssen sich zunehmend mit den zahlreichen ausländischen Anbietern messen lassen, die den deutschen Mittelstand als Zielgruppe entdeckt haben und seit einiger Zeit in den deutschen Markt drängen.

Zu diesen gehört beispielsweise Freshworks. Das junge indische Unternehmen findet mit seinen Cloud-Diensten für Customer Service, CRM und IT Service Management auch hierzulande immer mehr mittelständische Kunden. Viele Freshworks-Produkte sind mit KI-Komponenten angereichert, die beispielsweise den Verkaufsprozess optimieren oder einfache Kundenanfragen handhaben, bevor sich ein menschlicher Ansprechpartner hinzuschalten muss. Was laut Vertriebsleiter Jens Leucke die Mittelständler überzeugt, ist dass die Produkte mittelstandsgerecht sind: Sie bieten eine Implementation mit geringem Aufwand und eine Offenheit, die es Kunden leicht macht, bereits existierende Anwendungen daran anzuschließen.

Es gibt reichlich Hilfe

Die gute Nachricht: Der Mittelstand ist in Deutschland nicht auf sich allein gestellt. Der Industrie und der Politik gleichermaßen ist bewusst, dass der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist und es auch bleiben muss. Sowohl die einschlägigen Verbände als auch die Politik geben sich traditionell Mühe, vor allem dem kleineren Mittelstand auf die nächste Entwicklungsstufe zu helfen. So sind im Rahmen der Digitalisierungsoffensive bereits zahlreiche Kompetenzzentren für den Mittelstand entstanden, in denen praktische Hilfe angeboten wird, zum Beispiel vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW). In diesen Anlaufstellen rückt nun auch das Thema Künstliche Intelligenz auf die Agenda, wie bei Veranstaltungen wie dieser zu sehen ist.

Darüber hinaus wird Mittelständlern Hilfe aus dem Bereich der angewandten Forschung angeboten, allen voran von der Fraunhofer Gesellschaft. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) zum Beispiel hat einen eigenen Bereich zuKünstlicher Intelligenz und betreibt seit Anfang des Jahres einen Blog, der das Thema in einer einfachen Sprache für Nicht-Techniker verständlich macht. Die Plattform Lernende Systeme wiederum bietet über ihre KI-Landkarte Orientierung über geeignete Anlaufstellen. Auch in Sachen Fortbildung tut sich einiges und selbst der Bitkom bietet inzwischen Ausbildungskurse zum KI Manager an.

Fazit

„Verschläft der Mittelstand seine Zukunft?“ Solche Schlagzeilen gibt’s jedes Mal zu lesen, wenn ein großer weltweiter Trend im Anmarsch ist, siehe Globalisierung, Internet, Cloud Computing, Digitalisierung oder jetzt eben Künstliche Intelligenz. Vielleicht braucht es auch solche Schlagzeilen als Weckruf. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland nunmehr Exportweltmeister ist und beispielsweise die meisten Patente für autonome Fahrzeuge hält, wurden die großen Trends wohl eher nicht verschlafen. Wenig KI-tauglich ist hingegen stellenweise die digitale Infrastruktur, wie beispielsweise aus dem Kommentar unter diesem Artikel herauszulesen ist. Ob und welcher Art Weckrufe hier helfen könnten, bleibt abzuwarten.

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