Psychische Probleme am Arbeitsplatz – und wie Unternehmen sie erkennen können

Psychische Erkrankungen sind bereits der dritthäufigste Grund für Ausfälle am Arbeitsplatz. Eine frühe Erkennung und rechtzeitige Vorbeugung ist möglich, wenn Arbeitgeber die Sache methodisch angehen.

Seit sechs Jahren gehört zur Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz explizit auch die Risikoanalyse für psychische Gefährdungen, die mit den körperlichen Erkrankungen oft Hand in Hand gehen.Bereits 2013 hat der Gesetzgeber die Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz verpflichtend um den Bereich psychischer Gefährdungen ergänzt. Laut der Krankenkasse DAK Gesundheit lagen psychische Krankheiten 2018 nach den Muskel- und Skeletterkrankungen und Erkrankungen des Atmungssystems mit 15,2 Prozent auf Platz drei. 

Die Dauerbeschallung in einem Großraumbüro kann psychischen Stress verursachen, auch wenn sie unter der gesetzlichen Dezibelgrenze liegt.

Dieser starke Anstieg ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Die Arbeit verdichtet sich bei immer weniger Personal, Arbeitnehmer müssen flexibel sein, sich auf ständig neue Technologien einstellen und mit der Informationsflut der Digitalisierung sowie permanenter Erreichbarkeit umgehen. Psychische wie physische Gefährdungen am Arbeitsplatz gehen dabei Hand in Hand. Lärm zum Beispiel kann ab einer gewissen Lautstärke das Gehör schädigen und als Dauerbeschallung in einem Großraumbüro gleichermaßen psychischen Stress verursachen, auch wenn er unter der gesetzlich geforderten Dezibelgrenze bleibt. 

Fünf Bereiche der psychischen Gefährdungsbeurteilung

Bei der psychischen Gefährdungsbeurteilung an Arbeitsplätzen greifen diverse Faktoren ineinander, die in fünf Bereiche unterteilt werden können: 

  • Arbeitsinhalt und Arbeitsaufgabe: Führt der Arbeitnehmer die Arbeit vollständig oder nur in Teilen aus, wie hoch sind Routine und Abwechslung?
  • Arbeitsorganisation: Wann und wie wird gearbeitet – am Stück oder auf Abruf? Wie hoch ist der Zeitdruck und wie sind Abläufe? Wird der Mitarbeitende immer wieder unterbrochen, arbeitet er in einer hohen Taktung?
  • Soziale Beziehung: Hier sind Unternehmenskultur und Arbeitsklima relevant. Wie gestaltet sich die Interaktion, gibt es eine Streitkultur?
  • Arbeitsumgebung: Wie sind die Arbeitsplätze gestaltet und ausgestattet?
  • Neue Arbeitsformen: Hier spielen die Work-Life-Balance oder befristete Arbeitsverhältnisse eine Rolle. Auch der häufige Austausch der Arbeitnehmer oder atypische Beschäftigungen können Belastungsfaktoren sein.

Dieser Katalog deckt den Großteil der allgemeinen Belastungsfaktoren ab. Branchen- oder berufsspezifisch kann er zudem angepasst und ergänzt werden.

Psychische Belastung am Arbeitsplatz: Berufe mit Gefährdungspotenzial 

Prinzipiell können Arbeitnehmer jeder Branche und jeden Berufs psychischen Belastungen ausgesetzt sein. Die Faktoren hängen jedoch auch vom konkreten Betrieb und den jeweiligen Aufgaben ab.

In der Gesundheitsbranche herrscht zum Beispiel ein hohes psychisches Gefährdungspotenzial, da die Angestellten nicht nur körperlich stark belastet werden, sondern auch, weil sie im Arbeitsalltag emotional herausfordernden Situationen mit kranken oder sterbenden Menschen begegnen. Auch andere soziale Berufe, Tätigkeiten mit einem hohen Anteil körperlicher Arbeit sowie Jobs in der Produktion und Logistik weisen ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf.*

Evaluation der potenziellen psychischen Belastung am Arbeitsplatz

Um die Gefährdung einer psychischen Belastung am Arbeitsplatz zu evaluieren, gibt es drei zentrale Ansätze: Eine Umfrage unter den Beschäftigten, eine Begehung vor Ort mit persönlichen Interviews sowie moderierte Analyse-Workshops. In einem ersten Schritt werden Belastungen im Betrieb ermittelt. Der TÜV Hessen bietet dafür zum Beispiel ein Screening, den BalanceCheck, an. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftlich validierte und anwenderfreundliche Methode zur Mitarbeiterbefragung, die die Anforderungen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) erfüllt. Unternehmen können damit nach Tätigkeiten und Themen durchleuchtet werden. 

Der TÜV Hessen hat ein Verfahren zur Früherkennung psychischer Probleme entwickelt. (Quelle: TÜV Hessen)
Der TÜV Hessen hat ein Verfahren zur Früherkennung psychischer Probleme entwickelt. (Quelle: TÜV Hessen)

Bei der Befragung werden zunächst Tätigkeitsfelder und Kategorien eingeteilt und so angepasst, dass aussagekräftige Antworten entstehen können. Die Erhebung findet dann online, auf Papier oder in einer Mischform statt. Nach einem Erhebungszeitraum von drei Wochen werden die Ergebnisse ausgewertet. Die dabei definierten Handlungsfelder werden im Anschluss in Workshops vor Ort erarbeitet und vertieft. Das ist wichtig, da die Ursachen nicht immer auf der Hand liegen: Eine zu große Arbeitsbelastung kann zum Beispiel an ineffizienten Prozessen liegen oder schlicht an Personalmangel. 

Wichtig für die Erhebung ist eine intensive Vorbereitung. Denn Mitarbeitende stehen einer Gefährdungsbeurteilung gerade von psychischen Belastungen häufig skeptisch gegenüber. Sie fürchten beispielsweise, dass ihre Arbeits- und Belastungsfähigkeit getestet werden soll. Um Angst abzubauen, ist es notwendig, die Mitarbeitenden darüber aufzuklären, dass es nicht darum geht, Schwächen aufzudecken, sondern dass mit den Ergebnissen ihre Arbeitsbedingungen konkret verbessert werden können und sollen. Eine Informationsveranstaltung kann die Bedenken in der Regel ausräumen.

Analyse, Auswertung und Zeitrahmen

Der gesamte Prozess der Evaluation inklusive Planung dauert zwei bis drei Monate. Ziel ist es, eine Rücklaufquote von mindestens 50 Prozent zu erreichen, da die Ergebnisse dann repräsentativ für das Gros der Beschäftigten sind. 

Maßnahmen können in Kleingruppen und durch Methoden wie das „World Café“ erarbeitet werden.

Über ein Online-Tool und Tabellenkalkulationsprogramme erfolgt die Auswertung des digitalen Fragebogens durch statistisch ausgebildete Psychologen. Jede Kategorie verfügt über Unterkategorien, die auf einer Skala von 1 bis 5 bearbeitet werden. Außerdem bewertet der TÜV Hessen die Differenz zwischen dem Ist-Zustand und einem im Fragebogen abgefragten Wunschzustand. Ein Diagramm visualisiert daraufhin die Mittelwerte. Aus der Differenz der Ist- und Sollwerte lässt sich schließlich ablesen, wie dringend Mitarbeiter hier Verbesserungen wünschen. 

Die Bewertungsskala gibt als Ampelsystem ebenfalls Auskunft über die Dringlichkeit: Bereiche mit Mittelwerten über 3,8 gelten als positiv und weitgehend unbedenklich; Mittelwerte darunter bis zu 3,0 stellen zumindest unkritische Werte dar, die farblich einer gelben Wertezone entsprechen. Wertebereiche unter 3,0 hingegen gelten als kritisch und zeigen als roter Wertebereich an, dass das untersuchte Unternehmen hier tätig werden muss. 

Geschützte Räume für die Offenlegung von Problemen

Auf die Befragung sollte dann ein Workshop folgen, um Lösungsansätze zu entwickeln. Dabei werden die Beschäftigten mit den Ergebnissen der Befragung konfrontiert – zunächst in Abwesenheit des Chefs, um einen geschützten Rahmen zu schaffen. Die Probleme werden offengelegt und priorisiert. Um dem angestrebten Zielzustand so schnell wie möglich nahezukommen, sollen Mitarbeiter zum Beispiel den perfekten Arbeitstag skizzieren. Im nächsten Schritt werden mögliche Maßnahmen in Kleingruppen und durch Methoden wie das „World Café“ erarbeitet. Hier wachsen Ideen und es ergeben sich Lösungen. Im Plenum wird dann geprüft, was umsetzbar ist. 

Moderierte Workshops eignen sich besonders für Kleinbetriebe.

Die Pläne werden mit dem Projektteam oder der Führungskraft abgestimmt. Manche Veränderungen lassen sich einfach innerhalb von Teams durch neue Regeln erreichen – etwa wenn vergessen wird, beim Telefonat im Großraumbüro den Lautsprecher auszustellen. Für andere, die zum Beispiel ein Mehr an Personal oder neue Prozesse erfordern, ist die Geschäftsleitung der Entscheider. 

Ein moderierter Workshop kann auch als alleinstehendes Tool eingesetzt werden. Die psychische Belastung wird in diesem Rahmen beschrieben, wobei auf die Erfahrung und das Wissen der Beschäftigten, der Führungskräfte und das Fachwissen von Experten Bezug genommen wird. Diese Art der Gefährdungsbeurteilung eignet sich für kleine Betriebe oder Organisationseinheiten, da sie psychische Belastungen bei der Arbeit differenziert beschreiben, ihre Beurteilung und die Entwicklung von Maßnahmenvorschlägen in Einem ermöglichen. Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz sind eine offene Gesprächskultur und eine vertrauensvolle Atmosphäre im Unternehmen. 

Präzise Erkenntnisse durch eine Begehung vor Ort

Neben Umfrage und Analyse-Workshops besteht auch die Möglichkeit der Begehung und von Interviews vor Ort, um eine psychische Gefährdungsbeurteilung vom TÜV Hessen zu erstellen. Auch hier liegen der Leitfaden und die fünf Kategorien zugrunde. Die Vorgehensweise zur Gefährdungsbeurteilung und ihre Methoden müssen auf das zu untersuchende Unternehmen abgestimmt werden. Hier sollte der Dienstleister eine Beraterfunktion wahrnehmen und das Kosten-Nutzen-Verhältnis sowie die Erfahrungen der Mitarbeiter berücksichtigen. 

Für große Unternehmen oder Konzerne bieten sich bei Vor-Ort-Interviews aufgrund der Vielzahl der zu befragenden Mitarbeiter repräsentative Stichproben an. In kleinen Betrieben können Workshops alle Mitarbeitenden einbinden, was bei Sprach- und Verständigungsproblemen zusätzlich mit Interviews flankiert werden kann.

Probleme in den sozialen Beziehungen mit dem Chef deuten auf Kommunikationsprobleme hin.

Um die Anonymität zu gewährleisten, müssen auf jede Kategorie mindestens fünf Mitarbeiter-Interviews kommen. Aus der Begehung mit Befragung lassen sich in der Regel konkretere Informationen gewinnen, da bei der Identifikation einer Gefährdung direkt deren Ursache erfragt werden kann. Handlungsempfehlungen resultieren daraus fast automatisch. Zeigt die Online-Befragung, dass Mitarbeiter Probleme in den sozialen Beziehungen mit dem Chef haben, wird in Interviews dagegen schnell klar, dass es sich um ein Kommunikationsproblem handelt. Hier lässt sich direkt mit einer Lösung ansetzen.

Es ist dann die Aufgabe des Unternehmens, die Ideen in die Tat umzusetzen. Mit einer erneuten Gefährdungsbeurteilung nach einem Intervall von zwei bis drei Jahren kann festgestellt werden, welche Maßnahmen erfolgreich wirken und welche Maßnahmen angepasst werden müssen. 

Fazit

Mit einer (Online)-Befragung, einer Begehung und Interviews vor Ort sowie mit Workshops können Unternehmen ihren Betrieb einer Gefährdungsbeurteilung (GBU) psychischer Belastungen am Arbeitsplatz unterziehen. Wichtig sind dabei eine gute Vorbereitung der Evaluation, um eine mögliche Skepsis der Mitarbeiter abzubauen sowie sorgfältig aufbereitete Fragen durch geschultes Personal. Die Unternehmen haben selbst in der Hand, welche und wie viele der aus der Befragung hervorgegangenen Maßnahmen sie umsetzen wollen und können.


 *) Ziegler, Julian Pascal (2019): Psychische Gefährdungsbeurteilung – Analyse des TÜV Hessen BalanceCheck und Benchmarking ausgewählter Tätigkeitsgruppen.

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