Digitale Arbeit und die „Epidemie der Bedeutungslosigkeit“

Viele Arbeitende durchlaufen momentan eine berufliche Sinnkrise, die sich in Symptomen wie mangelnde Motivation, Entfremdung und Resignation äußert. Das abstrakte Wesen der digitalen Arbeit trägt wesentlich zu diesem Phänomen bei. 

Die Symptome sind in der digitalen Arbeitswelt allgegenwärtig. Immer mehr Arbeitende verabschieden sich innerlich von ihrem Job, ohne ein Wort darüber zu verlieren (Stichwort „Quiet Quitting„); Burnout ist dabei, eine Volkskrankheit zu werden; und die Wechselwilligkeit liegt in Deutschland seit 2019 auf einem konstant hohen Stand, aktuell bei 36 Prozent (bei Jüngeren Arbeitnehmern sogar bei 48 Prozent). Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jedes Jahr 12 Milliarden Arbeitstage aufgrund von Angstzuständen und Depressionen verloren gehen und jeder vierte Arbeitnehmer weltweit zumindest Symptome von Burnout aufweist.

Digitale Arbeit kann die Distanz zwischen Menschen vergrößern, virtuelle Interaktionen fühlen sich oft wie reine Transaktionen an.

Über die Ursachen wird seit Jahren viel diskutiert. „Im Zentrum dieser Krise stehen mangelnde Transparenz, fehlende Perspektiven und psychologische Unsicherheit“, sagt Allison Howell, Vice President of Market Innovation beim Personaldienstleister Hogan Assessments, einem weltweit führenden Anbieter von Persönlichkeitsbewertungen und Führungsberatung am Arbeitsplatz. „Die Mitarbeiter fühlen sich isoliert und unterbewertet – als wäre ihre Arbeit bedeutungslos. Führungsstile, die Distanz schaffen, und unkontrollierter Burnout verstärken dieses Gefühl der Bedeutungslosigkeit nur noch.“ Bei Hogan spricht man schon von einer „Epidemie der Bedeutungslosigkeit“. 

Digitale Arbeit ist Mitverursacher der Misere

Allison Howell sieht die Digitalisierung der Arbeit als eine der Kernursachen für dieses Phänomen. „Die Digitalisierung hat viele alltägliche zwischenmenschliche Momente weggenommen, die der Arbeit Struktur und Sinn gegeben haben – die Begrüßung auf dem Flur, das persönliche Dankeschön und vieles andere. Jetzt reagiert die KI schneller als Ihr Chef, und virtuelle Interaktionen können sich wie reine Transaktionen anfühlen. Das Ergebnis? Die Menschen fühlen sich weniger gesehen, weniger gehört und weniger wertgeschätzt. Das ist ein kulturelles Problem, das sich hinter einem technologischen Wandel verbirgt.“

Lesetipp

Die Digitalisierung ist für Howell allerdings nicht die einzige Ursache. Die Arbeitswelt werde immer volatiler und unsicherer. Und in Zeiten der Unsicherheit würden Menschen nach Sinn in ihrem Leben suchen und möglicherweise das Gefühl haben, dass ihre Arbeit ihnen nicht mehr die gleiche Lebenszufriedenheit bietet wie in stabileren Zeiten. „Die Epidemie ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren, und die Digitalisierung der Arbeit kann die Distanz zwischen den Mitarbeitern noch vergrößern“, lautet ihre Diagnose.

Laut Hogan ist die grassierende Bedeutungslosigkeit nicht nur ein Problem für die psychische Gesundheit, sondern auch ein strategisches Warnsignal für Unternehmen. Diese haben noch die Gelegenheit Transparenz, Sinnhaftigkeit und Motivation wiederherzustellen, wenn sie bereit sind, ihre Führungs-, Einstellungs- und Unterstützungsstrategien zu überdenken. Um die Ursachen dieser Krise angehen, empfiehlt der Personaldienstleister fünf Strategien, die auf Erkenntnisse aus dem Bereich der Persönlichkeitsforschung basieren.

1 Führungskräfte, seid zuerst Mensch, dann Chef!

„Menschen öffnen sich nicht in Umgebungen, die unpersönlich oder geschäftsmäßig wirken“, mahnt Howell. Die Grundlage für echte Verbindungen am Arbeitsplatz sei psychologische Sicherheit. Wenn Führungskräfte Schwächen zeigen, zu ihren Fehlern stehen und aufmerksam zuhören, signalisieren sie, dass es sicher ist, ehrlich und menschlich zu sein. Dennoch glaubt laut einer aktuellen Studie nur jeder fünfte Mitarbeiter, dass sein Arbeitgeber sich wirklich um sein Wohlergehen kümmert.

„Die Menschen, denen etwas am meisten am Herzen liegt, sind oft am kürzesten davor, zu kündigen“, sagt Allison Howell, Vice President of Market Innovation bei Hogan Assessments.
„Die Menschen, denen etwas am meisten am Herzen liegt, sind oft am kürzesten davor, zu kündigen“, sagt Allison Howell, Vice President of Market Innovation bei Hogan Assessments.

Hogans Forschungen zeigen, dass Führungskräfte unter Druck oft in kontraproduktive Verhaltensmuster verfallen, sich zurückzuziehen oder im Gegensatz dazu versuchen, zu dominieren oder zu kontrollieren. Diese Verhaltensweisen mögen im Moment schützend wirken, aber sie schaden dem Vertrauen und schaffen Distanz. „Menschen brauchen keine perfekten Führungskräfte – sie brauchen ehrliche“, sagt Allison Howell. „Wenn Führungskräfte ihre perfekt erscheinende Rüstung ablegen, fühlen sich die Menschen sicher genug, um sich bei der Arbeit voll und ganz einzubringen. Das ist der Beginn von Vertrauen.“ Das Verständnis der eigenen Führungsmuster – was Vertrauen schafft und was es unbeabsichtigt zerstört – sei der erste Schritt zu einer Kultur, in der Menschen sich voll und ganz einbringen können.

2 Stellen Sie Mitarbeiter aufgrund ihrer Werte ein, nicht nur aufgrund ihrer Fähigkeiten

„Es ist wichtig, jemanden mit der richtigen Erfahrung einzustellen, aber gemeinsame Ziele sind der Motor für langfristigen Erfolg“, betont Howell. Hogan hat hierzu ein „Motives, Values, Preferences Inventory“ (MVPI) entwickelt, das Unternehmen hilft zu verstehen, was Menschen am wichtigsten ist – was sie motiviert, was sie schätzen und was ihrer Arbeit Sinn gibt. Demnach zeigen Mitarbeiter, die einen klaren Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und einem übergeordneten Ziel sehen, mehr Energie, Eigenverantwortung und Engagement. 

Ohne diesen Zusammenhang können selbst Spitzenkräfte ihre Orientierung verlieren. „Die Menschen möchten wissen, dass ihre Arbeit wichtig ist und zu etwas Größerem beiträgt“, sagt Allison Howell. „Wenn die Ziele klar sind und alle sie teilen, entsteht Motivation. Werteorientierte Personalbeschaffung bedeutet, Teams aufzubauen, denen die Mission am Herzen liegt. Es geht nicht nur um Fähigkeiten. Es geht darum, Teil dessen sein zu wollen, was das Unternehmen erreichen möchte.“

3 Verbrennen Sie nicht Ihre Talente: Engagement hat auch eine Schattenseite

Engagement wird in der Regel gefeiert, aber zu viel davon kann schädlich sein. Mitarbeiter, die sich stark engagieren, verlangen oft zu viel von sich selbst, übernehmen mehr, als sie sollten, und laufen direkt in den Burnout hinein. Laut einer weltweiten Studie gaben 52 Prozent der befragten Arbeitnehmer an, im letzten Jahr Symptome eines Burnouts gehabt zu haben. Hogans eigene Untersuchungen zeigen, dass übermäßiger Perfektionismus, Leistungsstreben und extreme Gewissenhaftigkeit häufig schnell zu Rigidität, Überforderung und emotionaler Erschöpfung führen können – insbesondere unter Stress.

„Die Menschen, denen etwas am meisten am Herzen liegt, stehen oft am kürzesten davor, zu kündigen.“

Ironischerweise sind leistungsstarke und missionsorientierte Fachkräfte oft am stärksten von diesem Phänomen betroffen. „Wenn Leidenschaft in Druck umschlägt, führt dies zu Burnout und Desillusionierung. Wir beobachten dies besonders in Bereichen, in denen Menschen sich sehr engagieren, aber keine klare Anerkennung oder Zielausrichtung erfahren“, so Howell. Die Menschen, denen etwas am meisten am Herzen liegt, stünden oft am kürzesten vor der Kündigung, doch nicht jeder würde dabei Alarm schlagen. Das sei ein Weckruf für Führungskräfte. Durch die frühzeitige Erkennung von Risiken anhand von Persönlichkeitsdaten können Unternehmen ihren Mitarbeitern helfen, ihre Energie auf nachhaltigere Weise einzusetzen.

4 Das Jahresgespräch reicht nicht aus – sprechen Sie wöchentlich miteinander

Verzögertes Feedback ist abgelehntes Feedback. In den heutigen hybriden Umgebungen kann es passieren, dass Mitarbeiter wochenlang ohne sinnvolle Rückmeldungen auskommen müssen. Laut Gallup erhalten nur 21 Prozent der Arbeitnehmer wöchentlich sinnvolles Feedback, doch diejenigen, die dies tun, berichten von einem um 79 Prozent höheren Engagement. Auch wenn nicht jederauf dieselbe Weise auf Feedback reagiert – manche bevorzugen häufige Anerkennung, andere legen Wert auf Autonomie – darauf verzichten sollte man nie.

„Menschen brauchen keine perfekten Führungskräfte – sie brauchen ehrliche.“

„Feedback sollte durchdacht, zeitnah und auf die jeweilige Person zugeschnitten sein“, sagt Howell. „Was den einen motiviert, kann den anderen überfordern. Wenn Führungskräfte Persönlichkeitsunterschiede verstehen, wird ihr Feedback effektiver – und führt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu dauerhaften Veränderungen.“ Wenn Führungskräfte in die Lage versetzt würden, ihr Feedback individuell zu gestalten, stärkt dies das Vertrauen und verbessert die Ergebnisse. Es gehe nicht nur um die Häufigkeit, sondern darum, jedes Gespräch sinnvoll zu gestalten.

5 Hören Sie auf, schlechte Führungskräfte zu befördern

Viele Unternehmen befördern Mitarbeiter aufgrund ihrer Sichtbarkeit, ihres Selbstbewusstseins oder ihrer Betriebszugehörigkeit. Diese Eigenschaften führen jedoch nicht immer zu einer effektiven Führungskraft. Tatsächlich werden zwischen 50  und 75 Prozent der Führungskräfte als unterqualifiziert oder sogar als schädlich für die Teamkultur angesehen. Sie ignorieren Bedenken, heimsen Lorbeeren ein, beugen Regeln und zehren emotional an ihren Teams. Die Auswirkungen sind verheerend: 8 von 10 Mitarbeitern haben schon einmal bei der Arbeit geweint, und fast die Hälfte gibt schlechte Vorgesetzte als Grund dafür an.

Hogans Forschung unterscheidet kritisch zwischen der Entstehung von Führungsqualitäten (wer auffällt) und der Effektivität von Führungsqualitäten (wer tatsächlich gut führt). Ohne objektive Daten laufen Unternehmen Gefahr, Personen zu befördern, die die Unternehmenskultur eher untergraben als stärken. „Bei guter Führung geht es weniger um Charisma als vielmehr um Charakter“, sagt Howell. „Wenn Unternehmen Tools wie 360-Grad-Feedback, Persönlichkeitsdaten und Teamdiagnostik einsetzen, erhalten sie ein genaueres Bild davon, wer Vertrauen aufbaut – und wer es still und leise zerstört.“

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