Gmail schreibt die Email selbst – Muss Digitalisierung wirklich überall Zeit einsparen?

Ein neues Feature in Googles Gmail hilft Anwendern, E-Mails zu schreiben. Indem die Funktion Vorschläge für das Ende begonnener Sätze macht, soll der Nutzer schneller fertig sein. Muss das sein?

Eines der Hauptargumente für die Digitalisierung ist, dass Aufgaben schneller abgewickelt werden können. Automatisierungslösungen scannen auf der Basis Künstlicher Intelligenz Datenbanken in Sekundenschnelle, Mitarbeiter sparen sich Meeting-Reisen, indem sie sich dank Collaboration-Tools in virtuellen Räumen treffen und Homeoffice-Lösungen erlauben die Arbeit auch außerhalb des Büros und sparen damit Zeit, die der Kollege sonst auf der Straße verbringen würde. Mit der gewonnenen Zeit sollen „Kernkompetenzen“ wahrgenommen werden können, kreative Pausen oder Raum für strategische Planung möglich sein.

So etwas wie „Ein schönes Wochenende…“ wird automatisch immer freitags angehängt.

Jetzt also die E-Mail. Wer schneller mit der Beantwortung oder dem Verfassen fertig ist, hat Zeit für Anderes. Im Google-Blogbeitrag zeigt ein Beispiel, wie so etwas aussieht. Da schreibt jemand: „Hey Jaqueline, hab dich länger nicht gesehen…“ und der „smart composer“, so der Titel des Gmail-Features, vervollständigt: „…und ich hoffe, es geht dir gut.“ Im weiteren Verlauf heißt es dann: „Lass uns…“,so der Verfasser manuell, „…bald wieder treffen“, fügt das Tool hinzu.

Wie werden Emails künftig wahrgenommen?

Wie viel Zeit gewinnt man dadurch? Was macht das mit dem Kommunikationsmittel E-Mail, wenn alle Nachrichten fast immer gleich klingen? Und wie steht es mit der Wertschätzung dem Gesprächspartner gegenüber, für den man nicht mehr die Zeit aufbringt, sich persönlich zu bedanken oder eine individuelle Antwort zu formulieren?

Bei Google heißt es, man verplempere keine Zeit mit repetitivem Schreiben, also Texten, die immer wieder vorkommen – so etwas wie „Ein schönes Wochenende…“ wird automatisch immer freitags angehängt. Außerdem sei man mit der E-Mail schneller durch, weil das System weder Rechtschreib- noch Grammmatikfehler mache und man sich das Gegenlesen spare. Es gibt Hunderte Studien darüber, wie viel Zeit Beschäftigte mit der Bearbeitung von E-Mails verbringen. Dabei geht es aber hauptsächlich um die Menge an Nachrichten, die tagtäglich den Posteingang fluten. Alleine sie zu lesen dauert ewig. Und ja, sie zu beantworten auch. Wie viel Zeit aber letztlich tatsächlich eingespart wird dabei, ob man selbst „einen schönen Feierabend und bis morgen“ schreibt oder ob einem das Gmail abnimmt, das muss jeder selbst für sich entscheiden.

Der Adressat bekommt den Eindruck, es nicht wert zu sein, eine persönliche Email zu bekommen.

Hinzukommt ein weiterer Punkt. Ist die Funktion aktiviert und das Tool trifft den Ton nicht, in dem die Nachricht verfasst werden soll, muss jeder abgelehnte Vorschlag wegegklickt werden. Ob das dann Sinn der Sache ist, bleibt fraglich. Und noch etwas kommt einem in den Sinn: Wenn E-Mails automatisiert beantwortet werden und sich niemand drum schert, füllen dann noch mehr Nachrichten das Postfach, weil der Adressat einfach auf Antwort klickt und sich nicht mehr kümmern muss, ob eine Antwort überhaupt nötig war?

Was, wenn der Bot die Email ganz übernimmt?

Zeit ist das eine und möglicherweise entdeckt der eine oder andere dabei ein Einsparungspotenzial. Nach dem Motto: Wenn Gmail weiß, was ich sagen will, dann kann es das auch gleich schreiben. Kann man machen, klingt dann halt immer gleich. Denn Gmail will nicht nur die Begrüßungs- und Abschiedsformel übernehmen. So etwas in der Art beherrscht bereits „smart reply“, ein weiteres Google-Feature, bei dem man mit einem Klick dem Anrufer schreibt, dass man gerade nicht ans Telefon gehen kann. Der „smart composer“ will wirklich an die Prosa, heißt, das Mittendrin.

Und hier kommen das Persönliche, der Ton, der Stil und die Wertschätzung ins Spiel. Google wirbt zwar damit, dass die Funktion Künstliche intelligenz besitze und dazulerne. Dennoch bleibt die Frage zu wie viel Individualität das Teil fähig ist. Jeder geht mit seinem jeweiligen Gegenüber anders um – der eine ist es gewohnt, dass er Antwort kompetent und in sachlicher Sprache erhält, der andere kennt den Verfasser als einen, der eher umgangssprachlich kommuniziert. Das mag das Feature lernen können. Doch es weiß nicht, wann vielleicht eine gefühlvollere (oder deutlichere) Antwort vonnöten wäre. Denkt man die Technologie weiter und die gesamte E-Mail wird von einer Software geschrieben, könnte das unschöne Momente geben.

Vielleicht sollte man sich in Zeiten unklarer Kräfteverhältnisse zwischen Mensch und Maschine überlegen, wann direkte Kommunikation sinnvoll ist.

Das hat dann auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Denn wenn der Adressat erkennt, dass die Antwort aus autovervollständigten Sätzen besteht oder vollständig von einem Bot geschrieben wurde, bleibt das unangenehme Gefühl zurück, es wohl nicht wert gewesen zu sein, eine persönliche Antwort zu bekommen.

Zeit sparen vielleicht, aber zu welchem Preis?

Intelligentes Vervollständigen von Sätzen oder die Erstellung ganzer Texte mag bei kurzen Rückmeldungen wie „Alles klar, vielen Dank“ nützlich sein, man darf nicht jede Technik schwarz oder weiß sehen, schon klar. Unstrittig ist, dass es Aufgaben gibt, die schneller abgewickelt werden könnten und es ist auch sinnvoll, wenn man dazu Tools nutzt, die einem das abnehmen. Doch nur weil Google wieder ein Feature präsentiert, das letzten Endes dem Anbieter Daten liefern soll, muss man es nicht bedenkenlos einsetzen. Ist es so elementar, wirklich bei jeder Tätigkeit Zeit herausschlagen zu müssen? Das suggeriert einmal, dass man anscheinend viel zu viel überflüssiges Zeug abarbeitet und andererseits, dass man die vermeintlich gewonnene Zeit irgendwo anders besonders dringend braucht.

Wieso nimmt man sich gerade für die Kommunikation mit Partnern oder Kunden nicht auch einmal Zeit, die anderswo dank digitaler Tools eingespart worden ist? In Zeiten, in denen so viel über Mensch und Maschine, über deren Kräfteverhältnis und Unterschiede diskutiert wird, ist vielleicht die Kommunikation unter Menschen als Menschen um so wichtiger.

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