Braucht die digitale Arbeitswelt eine Anti-Stress-Verordnung?

Gewerkschaften fordern schon seit Jahren eine neue gesetzliche Regelung, die Arbeitende besser vor den neuen Gefahren einer digitalisierten Arbeitswelt schützt. Die Weltgesundheitsorganisation stellt die Diskussion um das Thema nun auf eine neue Basis. 

Stressbedingte Erkrankungen sind ein Phänomen unserer Zeit, das Jahr für Jahr von vielen Studien bestätigt wird. Nach einer aktuellen repräsentativen Studie von YouGov im Auftrag des Versicherungsunternehmens Swiss Life empfinden 63 Prozent der Deutschen ihr Stress-Level im Job als hoch oder eher hoch. 46 Prozent klagen über hohen Zeitdruck, fast ebensoviele über eine unangenehme Atmosphäre im Betrieb oder unter den Kollegen. Bei etwa einem Drittel der Befragten kommen Leistungsdruck und ein hohes Arbeitspensum hinzu, jeder zehnte leidet unter der erhöhten Aufgabenvielfalt und der vom Arbeitgeber geforderten Flexibilität.

Zeitdruck, Leistungsdruck und schlechte Stimmung im Betrieb sorgen für Stress. (Quelle: YouGov / Swiss Life)
Zeitdruck, Leistungsdruck und schlechte Stimmung im Betrieb sorgen für Stress. (Quelle: YouGov / Swiss Life)

Das Resultat sind immer häufiger psychische Erkrankungen. In den Jahren zwischen 2007 und 2017 hat sich die Zahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten von 48 Millionen auf 107 Millionen in Deutschland mehr als verdoppelt, wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. 

Existenzielle Bedrohung

Von der eingebüßten Produktivität von rund 34 Milliarden allein im Jahr 2017 abgesehen, stellen psychische Erkrankungen für viele betroffene eine existenzielle Bedrohung dar. „Jeder hat immer wieder anstrengendere Lebensphasen im Beruf und Privatleben. Wenn Stress aber zum Dauerzustand wird, kann die eigene finanzielle Unabhängigkeit gefährdet sein“, sagt Jörg Arnold, CEO bei Swiss Life Deutschland. „Psychische Erkrankungen sind mittlerweile Hauptursache für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben.“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert bereits seit Anfang dieses Jahrzehnts vom Gesetzgeber eine Lösung für dieses Problem. Eine Initiative der IG Metall mündete 2012 im Entwurf einer Anti-Stress-Verordnung, mehrere sozialdemokratisch geführte Bundesländer probierten es mit einem eigenen Entwurf einer „Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit“. Im Mai 2013 beschloss der mehrheitlich rot-grüne Bundesrat einen Verordnungsentwurf und forderte die Bundesregierung zum Erlass einer Verordnung auf.

Arbeitgeber sollen die Gefährdungslage ermitteln

Verordnungen wie die der IG Metall verpflichten Arbeitgeber dazu, „die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen, um Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit zu vermeiden“. Um zu ermitteln, ob solche Gefährdungen überhaupt vorliegen, nennt die Verordnung eine Reihe von Faktoren, die regelmäßig geprüft werden sollten. Dazu gehören die Gestaltung der Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation; die sozialen Beziehungen zwischen Beschäftigten, Vorgesetzten und Kunden; die Bedingungen am Arbeitsplatz und der Arbeitsumgebung sowie die Gestaltung der Arbeitszeit.

Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist seit 2000 dramatisch gestiegen. (Quelle: DAK Gesundheitsreport 2019)
Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist seit 2000 dramatisch gestiegen. (Quelle: DAK Gesundheitsreport 2019)

Bisher konnte sich die SPD innerhalb der Bundesregierung nicht bis zu einem Kabinettsentwurf einer Anti-Stress-Verordnung durchsetzen. Die Bundesregierung verweist lieber auf freiwillige Initiativen innerhalb der Betriebe. Doch die Diskussion darum will nicht verstummen, beflügelt von immer mehr Studien wie die oben erwähnte, die bestätigen, dass das Problem Jahr für Jahr größer wird. „Dass die Bundesregierung angesichts dieser Zahlen einfach schulterzuckend auf die Arbeitgeber verweist, ist eine Frechheit“, kommentiert DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach und mahnt, dass sich dieses Problem nicht von selbst in Luft auflösen wird.

Ist der Job wirklich schuld daran?

Arbeitgebernahe Organisationen wie das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) nehmen das Problem mit der steigenden Zahl psychisch Kranker sehr wohl zur Kenntnis. Das ifaa bezweifelt aber, ob der Anstieg allein auf die härteren Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist. „Dass in den letzten Jahren eine Zunahme psychischer Störungen verzeichnet wurde, lässt sich auch darauf zurückzuführen, dass Hausärzte, die oft medizinischer Erstkontakt sind, mittlerweile eher eine psychische Störung in Betracht ziehen, auch wenn ein Patient über körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen klagt“, sagt die wissenschaftliche Expertin des ifaa, Dr. Catharina Stahn. Außerdem hätten sich besonders bei jüngeren Männern Vorbehalte gegenüber psychischen Störungen reduziert.

Die fünf wichtigsten Einzeldiagnosen bei psychischen Erkrankungen. (Quelle: DAK Gesundheitsreport 2019)
Die fünf wichtigsten Einzeldiagnosen bei psychischen Erkrankungen. (Quelle: DAK Gesundheitsreport 2019)

Vor allem bezweifelt aber das ifaa, dass sich das Problem mit dem Stress am Arbeitsplatz über eine von der Gewerkschaft entworfenen Verordnung lösen lässt. Diese werde weder den individuellen Bedürfnissen der Beschäftigten noch der Unternehmen gerecht und stelle keine passende Lösung für arbeitsorganisatorische und kulturelle Probleme dar. Auch lasse sich ein negatives Arbeitsklima nicht durch Verordnungen und Regelungen verbessern. Vielmehr sollten alle Beteiligten gemeinsam nach praktikablen Möglichkeiten suchen, um das Problem anzugehen.

Burnout ist berufsbedingtes Phänomen, sagt die WHO

Immerhin: Den Sinn einer Gefährdungsbeurteilung bestreitet das ifaa nicht. Diese eigne sich dazu, um miteinander ins Gespräch zu kommen. „Mit der Gefährdungsbeurteilung können Faktoren aufgedeckt und idealerweise beseitigt werden, die sich als Auslöser hinter einem schlechten Arbeitsklima verstecken. Auch das Thema Zeitdruck als psychischer Belastungsfaktor sollte in diesem Rahmen betrachtet werden. Hier können zum Beispiel auch arbeitsorganisatorische Maßnahmen helfen.“

Neuen Schwung bekommt die Diskussion nun durch einen Einwurf der Weltgesundheitsorganisation. In einer neuen Definition des Burnout-Syndroms bezeichnet die WHO dieses als berufsbedingtes Phänomen (occupational phenomenon) und stellt damit den direkten Bezug zur Arbeitswelt her. Burnout sei demnach eine Folge von chronischem Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich bewältigt wurde. Zu den Symptomen gehören laut WHO die Erschöpfung, die Distanziertheit und oft zynische Haltung gegenüber dem eigenen Job sowie der deutliche Leistungsabfall. 

Den Bemühungen des DGB spielt diese Definition natürlich in die Hände, denn bislang war eine Diagnose von psychischen Belastungen aufgrund von Arbeit nur über den Umweg der Diagnose von Depressionen oder Angststörungen möglich. „Die Ankündigung der WHO wirft jetzt ein Schlaglicht auf diesen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und das ist gut so“, sagt DGB-Vorstand Annelie Buntenbach. „Der Gesetzgeber muss endlich handeln und darf nicht weiter tatenlos zuzusehen, wie Millionen Beschäftigte durch schlechte Arbeitsbedingungen einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind.“

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2 Kommentare

  1. Eine Anti-Stress-Verordnung ist so ziemlich das Letzte was wir brauchen! Noch nie in meiner 30jährigen Berufszeit – und sicher auch davor – wurde so viel Rücksicht auf Berufseinsteiger genommen wie heute. Flexible Arbeitszeit, Homeoffice, Elternzeit, usw. überbieten den „Haushaltstag“ der berufstätigen Mutter (1 x Monat) aus DDR-Zeiten um ein Vielfaches. Dennoch fühlen sich Einzelne schon gestresst, wenn eine klare Leistung eingefordert wird. Glücklicherweise gilt dies nicht für alle! Die Ursachen dafür sind sicher vielfältig, es beginnt aber im Elternhaus und zieht sich über die Schule bis in die Ausbildung oder das Studium. Wenn den Heranwachsenden zunehmend Verantwortung für ihr eigenes Handeln abgenommen wird und selbst Zensuren in der Schule als „Stress“ tituliert werden, darf man sich nicht wundern, dass die Berufswelt eine ganz andere Erfahrung darstellt.
    Plötzlich muss ich mich und vielleicht sogar auch andere so organisieren, dass nach einer vorgegebenen Zeit eine konkrete Leistung erreicht wird. Hinzu kommen dann die Familie und das ganze private Umfeld, alle mit eigenen Erwartungen. Nur ist das in der Vergangenheit nicht anders gewesen, abgesehen davon, dass Computer und Handy dabei nicht geholfen haben. Ja, man kann an diesen Geräten viel Zeit vertrödeln, was dann zwangsläufig zu weiterem Stress führt, eine Verordnung hilft aber garantiert nicht dagegen.

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