Agentic AI: Wie autonome KI-Agenten eine neue Klasse digitaler Arbeitskräfte schaffen
Vom Werkzeug zum Assistenten zum Junior-Mitarbeiter – Künstliche Intelligenz wird schnell zu einer festen Größe im Bereich der digitalen Arbeit. Die IT-Industrie spricht schon von der „digitalen Belegschaft“.
Das eben zu Ende gegangene Jahr war das Jahr der autonomen KI-Agenten. Insbesondere der Herbst hatte es in sich: Mitte September stellte ServiceNow seine AI Agents als Teil der neuen Version seiner Workflow-Plattform vor. Eine Woche später folgte Salesforce mit seiner Agentforce. Ende November startete Microsoft seinen Azure Al Agent Service, vierzehn Tage später stellte Google Gemini 2.0 vor, sein „KI-Modell für die Agenten-Ära“.
„Wir haben die Brücke zur Welt der digitalen Arbeitskräfte bereits durchschritten.“ Marc Benioff, CEO von Salesforce
Die Einführung autonomer KI-Agenten auf Basis von generativer KI (GenAI) gilt als bedeutender Meilenstein in der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Autonome KI-Agenten gelten als eigene Spezies in diesem Bereich, von der dazugehörigen Wissenschaft spricht man in der englischsprachigen Welt über “Agentic AI”. Darunter ist eine “handlungsfähige KI” oder “agierende KI” zu verstehen. Hierzulande ist von der „agentischen KI“ oder von „agentenbasierten KI-Systemen“ die Rede.
KI-Agenten revolutionieren den Kundendienst
Was KI-Agenten von KI-Diensten wie ChatGPT unterscheidet ist die Tatsache, dass sie nicht einfach nur auf Anweisungen (Prompts) hin reagieren und bestimmte Funktionen auszuführen, wie zum Beispiel die Zusammenfassung eines Textes oder die Analyse einer Excel-Tabelle. Vielmehr sind sie in der Lage, komplette Prozessabläufe eigenständig ausführen. So können beispielsweise KI-Agenten innerhalb einer Plattform wie die von Salesforce oder ServiceNow im Kundendienst Service-Anfragen beantworten oder Vorfälle abarbeiten – ohne menschliche Aufsicht. Kommen sie an einem Punkt, wo sie einen Vorfall nicht selbst zu Ende bearbeiten können oder für einen bestimmten Schritt die Genehmigung eines menschlichen Mitarbeiters benötigen, leiten sie den Fall weiter oder fragen nach.
Damit haben KI-Agenten in solchen Einsatzszenarien den Rang eines Junior-Mitarbeiters, und können letzteren in der Konsequenz auch ersetzen. Wie dies in der Praxis aussieht, hat der CEO von Salesforce, Marc Benioff, letzten Monat bei der Vorstellung von Agentforce 2.0 skizziert. Laut Benioff hat Salesforce Anfang Dezember seine Agentforce für den eigenen Customer Service auf help.salesforce.com ausgerollt und die bis dahin agierenden Chatbots damit ersetzt. Die Kundendienst-Website von Salesforce verarbeitet etwa 32.000 Kundenanfragen pro Woche und beschäftigt einige Tausend Support-Mitarbeiter.
Durch die Inbetriebnahme von Agentforce ist die Zahl der Anfragen, die an menschliche Mitarbeiter weitergeleitet werden mussten, um 50 Prozent gefallen, von rund 10.000 auf 5.000. Etwa 83 Prozent der Anfragen werden nun von den KI-Agenten abgearbeitet. Was dies für die aktuell beschäftigten Support-Mitarbeiter mittelfristig bedeuten könnte, kann sich jeder ausmalen. Der schwedische Zahlungsdienstleister Klarna zum Beispiel hat seit einem Jahr keine neuen Mitarbeiter angestellt, sondern lässt immer mehr Arbeitsabläufe von der KI erledigen.
Kein Menschenersatz, sondern Produktivitätsbooster
„Wir haben die Brücke zur Welt der digitalen Arbeitskräfte bereits durchschritten. Wenn wir von KI-Agenten sprechen, sprechen wir von digitalen Arbeitskräften“, sagt Marc Benioff. Und dies habe enorme Konsequenzen. „Wir müssen nun unser gesamtes Unternehmen neu konzipieren. In den letzten 25 Jahren haben wir Software erstellt, die unseren Kunden hilft, Informationen über deren Kunden zu verwalten und zu teilen. Jetzt managen wir nicht nur Informationen, sondern auch digitale Arbeitskräfte.“ Dennoch sieht Benioff Menschen und KI-Agenten eher als Team denn als Konkurrenten. „Menschen und KI-Agenten arbeiten gemeinsam für den Kundenerfolg“, lautet seine Losung.
Auch Amy Lokey, Chief Experience Officer von ServiceNow, teilt die Vision von der produktiven Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI-Agenten. Die neue Technologie schaffe KI-Systeme, die intelligent und autonom agieren, aber auch mit menschlichen Arbeitskräften interagieren und von ihnen überwacht und kontrolliert werden können. „Agentic AI sorgt dafür, dass Mitarbeiter sich nicht nur von KI-Assistenten helfen lassen, sondern dass sie ganze Flotten von autonomen KI-Agenten verwalten“, so Lokey. Damit habe jeder Mitarbeiter die Möglichkeit, noch mehr zu erreichen.
Ebenso wie Benioff sieht Lokey KI-Agenten nicht als Ersatz für menschliche Mitarbeiter, sondern eher als Produktivitätsverstärker. „Ihre Mitarbeiter können dafür sorgen, dass KI-Agenten Probleme erkennen und eigenständig lösen. Dabei bleiben sie aber immer noch nur Teil des Prozesses“, so Lokey. Beispielsweise könne ein KI-Agent den Kundenservice beschleunigen, indem er Aufgaben wie das Abrufen von Knowledge-Base-Artikeln, das Analysieren ähnlicher Fälle und das Generieren von E-Mail-Antworten übernimmt. In vielen Fällen reiche das schon aus, um eine Support-Anfrage komplett zu beantworten, in vielen anderen aber nicht.
Cloud-Plattformen haben die Nase vorn
Es ist kein Zufall, dass Unternehmen wie Salesforce und ServiceNow momentan beim Einsatz von KI-Agenten tonangebend sind. Deren Plattformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Arbeitsabläufe und Geschäftsprozesse in Bereichen wie Sales, Marketing, Service-Management oder Customer Service abbilden, die weitgehend digitalisiert sind. Zudem handelt es sich bei beiden um Cloud-Plattformen, die es ihren Betreibern ermöglichen, die Prozesse ihrer Kunden zu analysieren und daraus zu lernen. Dazu müssen sie nicht etwa die Aktivitäten ihrer Kunden im einzelnen oder gar deren Daten ausspionieren, sondern lediglich die Aktivität ihrer Plattformen als Ganzes beobachten.
Cloud-Plattformen wie Salesforce oder ServiceNow können KI-Agenten ohne viel Aufwand direkt in die Arbeitsabläufe ihrer Kunden integrieren.
Dies verschafft ihnen allerdings ein Prozess-Knowhow, das als Basis für das Training ihrer KI-Agenten unschätzbar ist. Auf diese Weise haben es beide geschafft, KI-Agenten zu entwickeln, die von Haus aus „wissen“, worin ihre Aufgabe bei einem Workflow im Customer Service oder in der Personalabteilung genau besteht. Außerdem bieten die Plattformen dieser Firmen die Möglichkeit, auf einfache Weise die passenden Aufsichtsmechanismen zu implementieren und effektive Leitplanken aufzustellen, damit die Agenten möglichst fehlerfrei arbeiten und die jeweiligen Datenschutzrichtlinien einhalten. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass beide Plattformen die für die jeweiligen Prozesse nötigen Daten aggregieren und der KI im richtigen Format zur Verfügung stellen können. Auf diese Weise sind Anwenderunternehmen in der Lage, ihre KI-Agenten sehr schnell zu konfigurieren und in Betrieb zu nehmen.
Bei generischen KI-Agenten, wie sie seit einiger Zeit von Microsoft oder Google angeboten werden, muss diese Arbeit erst noch geleistet werden – von den Anwenderunternehmen selbst oder von den Anbietern. Entsprechend wies Marc Benioff bei der Vorstellung von Agentforce 2.0 darauf hin, dass Microsoft zwar seit mehr als einem Jahr seinen Copilot anbietet, letzterer aber auf der Website von Microsoft nirgendwo sichtbar im Einsatz sei. „Es gibt nicht so viele Unternehmen, die das tatsächlich praktizieren, aber umso mehr, die das behaupten. Denn das erfordert ein Maß an Informatikwissenschaft, das nicht viele Menschen wirklich beherrschen“, so Benioff.
„KI bis in den letzten Winkel des Unternehmens“
An der Entwicklung von KI-Agenten arbeitet inzwischen fast die gesamte IT-Industrie, doch vorerst werden es Unternehmen wie Salesforce, ServiceNow & Co. sein, die viele Bereiche der digitalen Arbeit mit ihren KI-Agenten prägen werden. Das Interesse bei den Kunden beider Anbieter ist groß, erste Pilotprojekte lassen aufhorchen. So konnte zum Beispiel Adecco, einer der größten der Personaldienstleister weltweit, Daten aus mehr als 40 verschiedenen Systemen auf der Salesforce Data Cloud aggregieren und setzt nun Agentforce ein, um eine Vorauswahl der Kandidaten vorzunehmen und Lebensläufe aussagefähiger zu machen. Damit können sich die Recruiter auf hochwertigere Aufgaben konzentrieren, um Stellen schneller zu besetzen.
Sowohl Salesforce als auch ServiceNow arbeiten mit Hochdruck daran, ihre Agenten mit immer mehr „Skills“ (prozessspezifisches Know-how und Fähigkeiten) auszustatten, um „KI bis in den letzten Winkel des Unternehmens zu bringen“, wie ServiceNow-CEO Bill McDermott zu sagen pflegt. Bei ServiceNow waren es zuletzt mitunter die Bereiche IT Service Management, Customer Service, HR, Security Operations, Beschaffung und Vertragsmanagement. Salesforce hat mit Agentforce 2.0 Skills für CRM, Datenintegration, Datenanalyse und Enterprise Collaboration gezeigt. Bei letzterer können Agents ein einer Vielzahl von Rollen und Aufgaben in der Kommunikationsplattform Slack eingesetzt werden, um beispielsweise Chatverläufe zu analysieren und bei laufenden Projekten ihre Nutzer auf neue Informationen hinzuweisen.