Nach Corona: Die Zukunft der Arbeit in Europa
Die anstehende Wirtschaftskrise setzt Unternehmen noch stärker unter Druck, Geschäftsprozesse und Produktion zu automatisieren, glaubt McKinsey. Der durch die Digitalisierung ausgelöste Strukturwandel soll sich deswegen noch beschleunigen.
Die digitale Transformation der Wirtshaft verzeichnete bisher eine eher lineare Entwicklung, auch wenn sie in den letzten drei-vier Jahren an Tempo zugelegt hat. Auf dem Arbeitsmarkt war letzteres vor allem durch den Mangel von Fachkräften mit digitalem Know-how und die Zunahme von Jobs in wissensintensiven Branchen deutlich erkennbar. Politik und Wirtschaft taten sich bereits vor der Corona-Krise schwer, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Doch die anstehende Wirtschaftskrise wird nun die Transformation eher beschleunigen als verlangsamen, glaubt McKinsey.
Die Unternehmensberatung hatte bereits vor der Pandemie eine großangelegte Analyse von mehr als 1.000 lokalen Arbeitsmärkten in ganz Europa gestartet, um die Entwicklung der vergangenen 12 Jahre und der dazugehörigen Trends nachzuvollziehen. Bezeichnend war während dieser Zeit neben einem Boom für digitalen Berufe auch eine Konzentration des Beschäftigungswachstums auf eine Handvoll europäischer Regionen wie Amsterdam, Kopenhagen, Madrid, München oder Berlin. Beliebt waren auch die Hochburgen der produzierenden Industrie, wovon rund 70 Prozent sich auf deutschem Boden befinden, meist in unmittelbarer Nähe der Automobilproduktion.
Chance zur Neuorientierung
McKinsey geht davon aus, dass aufgrund des Lockdowns bis zu 59 Millionen Arbeitsplätze in Europa kurzfristig durch Arbeitszeit- oder Lohnkürzungen, unbezahlten Zwangsurlaub oder dauerhafte Entlassungen gefährdet sind. Die Auswirkungen werden ungleichmäßig verteilt sein, mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Branchen, Berufen und Demographien. Besonders gefährdet sind demnach Jobs in Kundendienst und Verkauf, Lebensmittelwirtschaft und Bau.
Die am stärksten bedrohten Arbeitsplätze überschneiden sich dabei mit denjenigen, die bereits durch die Automatisierung gefährdet waren, zum Beispiel im Groß- und Einzelhandel. Zugleich könnte die Krise in Ländern mit guten Fortbildungsmöglichkeiten wie Deutschland für viele Arbeitenden den Weg zu einem Arbeitsplatz mit anderen Qualifikationen ebnen. Das werde auch notwendig sein, so McKinsey, denn durch die anstehende Verrentung der Babyboom-Generation wird sich die Zahl der Erwerbstätigen in den nächsten zehn Jahren dramatisch verringern (in Deutschland um ca. 8 Prozent oder rund 4 Millionen Arbeitskräfte) und es könnte schwierig werden, genügend qualifizierte Arbeitskräfte für die neu geschaffenen digitalen Jobs zu finden.
Automatisierung bedroht 53 Millionen Jobs
Apropos Automatisierung: McKinsey hatte zuvor schon geschätzt, dass langfristig rund die Hälfte aller Tätigkeiten weltweit das Potenzial hätten, automatisiert zu werden. Tempo und Umfang hingen jedoch stark von wirtschaftlichen Gesichtspunkten, dem Lohnniveau, den gesetzlichen Regelungen und letztendlich der Akzeptanz der Verbraucher ab. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Pandemie wird das Automatisierungspotenzial für Europa in den nächsten zehn Jahren nun auf 22 Prozent der Tätigkeiten geschätzt, was etwa 53 Millionen Arbeitsplätzen entspricht.
Langfristig zeigen sich die Studienautoren jedoch optimistisch. „Wir gehen davon aus, dass bis 2030 die Corona-Krise hinter uns liegt und die neu geschaffenen Arbeitsplätze diesen automatisierungsbedingten Arbeitsplatzverlust ganz oder teilweise ausgleichen werden“, so die Studie. Vielmehr würde selbst bei einem Nettorückgang an Arbeitsplätzen die Besetzung freier Stellen für die europäischen Arbeitgeber eine Herausforderung sein. Unter der Annahme, dass bis 2030 die Zahl von Arbeitsplätzen sich auf ein Vor-Corona-Niveau erholen würde, müsste die Gesamtbeschäftigung um drei Prozentpunkte steigen, um die voraussichtlich verfügbaren Stellen zu besetzen.
Jobprofile ändern sich
Drei Branchen werden für 70 Prozent des Job-Wachstums in den nächsten zehn Jahren verantwortlich sein, glaubt McKinsey. Gesundheitswesen und Sozialberufe werden 4,5 Millionen Arbeitsplätze beisteuern, MINT-Berufe (Mathematik, Informationstechnologie, Naturwissenschaft und Technik) 2,6 Millionen und der Bildungssektor 2 Millionen Arbeitsplätze. Zu den gefährdeten Tätigkeiten gehören hingegen unterstützende Bürotätigkeiten, Produktionsjobs, Sachbearbeiter- sowie Niedriglohn-Jobs in Kundendienst und Verkauf.
Doch auch das Tätigkeitsprofil von weiterhin bestehenden Berufen soll sich in den nächsten Jahren ändern. Infolgedessen werden die Arbeitenden ihre Fähigkeiten erweitern müssen. Gute sozio-emotionale Fähigkeiten werden umso nötiger sein, je mehr sich Arbeitende auf Aufgaben konzentrieren, die Interaktion, Pflege, Unterricht und Ausbildung sowie das Management anderer Tätigkeiten erfordern. Diese Eigenschaften sind nur bei Tätigkeiten gefragt, für die Maschinen kein guter Ersatz sind, sondern auch bei der digitalen Arbeit.
Vier Empfehlungen an die EU
Wie gut sich Europa auf die beschleunigte Digitalisierung der Nach-Corona-Welt einstellen wird können, hängt von den Entscheidungen ab, die europäische Staats- und Regierungschefs heute treffen, sagt McKinsey, und gibt der Politik vier Ratschläge mit auf den Weg. Der erste besteht darin, mehr Ausbildungsmöglichkeiten und Karrierewege zu schaffen. Der zweite betrifft die Regionen, die sich als digitale Wachstumszentren herauskristallisiert haben: Hier sollte der Zugang zu Arbeitsplätzen einerseits durch die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, andererseits durch eine breitflächigere räumliche Verteilung der Jobs gestärkt werden. Der dritte betrifft Strukturmaßnahmen für Regionen mit starker Landflucht und einer schnell alternden Bevölkerung. Hier sollten die Staaten gemeinsam mit privaten Trägern in deren Wiederbelebung investieren.
Zu guter letzt empfiehlt McKinsey, die Erwerbsbeteiligung weiter zu erhöhen, sprich dafür zu sorgen, dass sich mehr Menschen am Arbeitsmarkt beteiligen können. Ein Ansatzpunkt hierfür wäre, gezielt Arbeitnehmer im Alter 55+ und Frauen einzubeziehen. Speziell bei letzteren liege ein Riesenpotenzial brach, da Frauen in Westeuropa nach wie vor zwei Drittel aller unbezahlten Betreuungsarbeit leisten. „Arbeitgeber können Frauen einstellen und halten, indem sie flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit und Fernarbeitsoptionen anbieten“, so der Bericht. Zudem könnten Regierungen steuerliche Anreize für Zweitverdiener schaffen und dafür sorgen, dass öffentliche Kinder- und Seniorenbetreuungsangebote weithin verfügbar sind.