Was ist die Rolle der IT bei der Digitalisierung?

Ist IT wirklich der strategische Leader?

Angesichts der rasanten Digitalisierung der Wirtschaft, deren Tempo von der Verfügbarkeit neuer IT-Technologien vorgegeben wird, kann sich die IT kaum mit der Rolle eines Erfüllungsgehilfen begnügen. Doch ist die Führungsrolle bei ihr wirklich gut aufgehoben?

Dass IT heute ein prägender Faktor des Business ist, hat Konsequenzen für das Verständnis ihrer künftigen Rolle.

Das Thema „Digitalisierung“ ist in vielen Unternehmen immer noch nicht gut verstanden. Beim einen ist IT nach wie vor ein Cost Center. Beim nächsten muss für alles und jedes eine App her. Wieder andere sprechen regelmäßig von Business-IT-Alignment. Oftmals beschränkt sich die Digitalisierung auch auf obskure Technologiediskussionen. Und dann gibt es noch diejenigen, die glauben, digitale Transformation bedeute, dass IT die strategische Führung übernehmen müsse.

Ja, was denn nun?

Missverstandene Digitalisierung

An dieser Stelle gibt es viele Missverständnisse. Das vielleicht größte aller Missverständnisse ist, dass der digitale Wandel etwas Neues sei. Dabei ist das Thema über 60 Jahre alt:

1In den späten 1950ern wurden dank der Verbreitung von Transistor-Technologie Computer auch für Unternehmen interessant. Allerdings war die Leistungsfähigkeit der damaligen Rechner noch äußerst bescheiden. Damit konnte man punktuell Geschäftsfunktionen digitalisieren. So konnte man vielleicht hier einmal einen kleinen Report erstellen und dort eine kleine Analyse. Trotz dieser bescheidenen Anfänge waren schon damals viele Business User von der Arbeitserleichterung begeistert.

2In den 1970er Jahren waren die Rechner so leistungsfähig, dass es möglich wurde, ganze Geschäftsprozesse (oder zumindest Teile davon) in IT abzubilden. Softwarefirmen wie z. B. SAP machten genau das zu ihrem Geschäftsmodell. Die Verbreitung von Vernetzung (Stichwort: LAN), Midrange-Computern sowie PCs in den 1980ern beschleunigte die Entwicklung noch einmal.

3In den 1990er Jahren trat das World Wide Web, heute einfach nur noch „Internet“ genannt, seinen weltweiten Siegeszug an, sehr bald gefolgt von den ersten eCommerce-Lösungen. Das war der Beginn der Digitalisierung der Kundenschnittstelle und der digitalen Kundeninteraktionen. Smartphones haben die Entwicklung noch einmal stark beschleunigt, denn: Die Kunden müssen nicht mehr zum Internet (an den PC) gehen, sondern das Internet geht mit den Kunden mit (als App auf dem Smartphone).

Allein die Verfügbarkeit von APIs hat ganze Geschäftsmodelle erst möglich gemacht.

4Seit den 2010ern werden sukzessive ganze Geschäftsmodelle in Form von APIs (d. h. Schnittstellen, über die man programmatisch auf die Funktionalitäten einer Anwendung zugreifen kann) digitalisiert. Man denke z.B. an Stripe, einen großen Internet-Zahlungsdienstleister: Der gesamte Umsatzstrom geht durch ein API. Weder Menschen noch Apps sind involviert. Im Sinne der Plattformökonomie werden außerdem bislang undenkbare Geschäftsmodelle erdacht und digital umgesetzt. Öffentliche APIs verschiedenster Unternehmen werden kombiniert und so ganz neue Arten von Angeboten erschlossen.

Das Thema digitaler Wandel ist also schon sehr alt und findet in Wellen statt. Aktuell befinden wir uns wohl am Ende der dritten Welle (Kundenschnittstelle- und -Interaktion) und erleben den massiven Anstieg von digitalen Geschäftsmodellen, also der vierten Welle.

Konsequenzen der Digitalisierung

Die Tatsache, dass IT mittlerweile nicht nur das Business durchgängig unterstützt (1. und 2. Welle), sondern bereits deutlich über die Grenzen eines Unternehmens hinaus wirkt (3. Welle) und sogar das Business selbst verändert (4. Welle), hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie Unternehmen IT heute verstehen und mit ihr umgehen müssen. Die wichtigsten Konsequenzen sind:

  1. Business und IT sind untrennbar geworden: Business ist IT – IT ist Business. Sie sind dieselbe Seite derselben Medaille. Auf der anderen Seite der Medaille befinden sich die Kunden und der Markt.
  2. IT ist unverzichtbar geworden. Ähnlich wie Strom muss IT funktionieren, immer und überall. Fällt die IT aus, leiden Menschen: Kunden, Mitarbeitende, Menschen bei Geschäftspartnern usw. – vom finanziellen Schaden ganz zu schweigen.

Strategische Leadership

Daraus ergeben sich notwendigerweise folgende Fragen:

Muss die IT aufgrund des digitalen Wandels nicht die strategische Führungsrolle übernehmen?

Denkt man über diese Frage unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Inhalte und Konsequenzen des digitalen Wandels einen Moment nach, dann kann die Antwort nur „Nein“ lauten. Auch wenn Business und IT heute untrennbar sind und IT früher unmögliche Geschäftsmodelle ermöglicht, ist der Geschäftszweck eines Unternehmens immer noch „Business“. Ohne Business keine Strategie.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass alles so bleiben soll wie es früher war, dass also Business das Sagen hat und IT nur Erfüllungsgehilfe ist?

Auch bei dieser Frage kann die Antwort nur „Nein“ lauten. In vielen Unternehmen stottert der erfolgreiche digitale Wandel gerade, weil dort an der Einbahnstraße von Business in Richtung IT festgehalten wird. Die Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf Seiten der IT werden auf der Business-Seite in der Regel erst mit einer langen Verzögerung verstanden.

Business-relevante Veränderungen der IT werden außerhalb der IT erst nach ca. 20 Jahren richtig verstanden.

Beispielsweise sind die neuen Möglichkeiten des Internets und von eCommerce erst in den 2010ern vollständig ausgelotet worden. Die sich vervielfältigenden Möglichkeiten der Kundeninteraktion durch Smartphones werden erst jetzt so langsam selbstverständlich im Lösungsentwurf mitbetrachtet und die Reduktion des Smartphones auf einen „schlechteren PC“ findet ein Ende. Mit den sich kontinuierlich weiterentwickelnden Möglichkeiten der Public Cloud – von On-Demand-IaaS-Outsourcing hin zum Enabler, mit dessen Möglichkeiten man extrem schnell und kostengünstig neue Geschäftsideen erproben und bei Erfolg auch gleich skalieren kann – tun sich zumindest in Deutschland die meisten Unternehmen noch schwer. Es gibt noch viele weitere Beispiele.

Als grobe Daumenregel kann man festhalten, dass neue, Business-relevante Veränderungen der IT erst nach ca. 20 Jahren außerhalb der IT richtig verstanden werden. Damit handeln sich Unternehmen, die ihre Veränderungsprozesse immer noch als Einbahnstraße von Business in Richtung IT betreiben, einen signifikanten Nachteil in Bezug auf die Nutzung ihrer IT ein. Sie hinken den Möglichkeiten, die der stets fortschreitende digitale Wandel eröffnet, um Jahre hinterher, was gerade in dynamischen, kundenzentrierten Märkten den Unterschied zwischen geschäftlichem Erfolg und Misserfolg ausmachen kann.

Wenn aber weder die IT noch das Business die strategische Führungsrolle übernehmen soll, wer dann?

Eigentlich wird die Antwort auf diese Frage bereits durch die Konsequenzen des digitalen Wandels gegeben: Business und IT müssen gemeinsam in den strategischen Lead. Wenn sie mittlerweile eine untrennbare, symbiotische Beziehung eingegangen sind, dann müssen sie ihre Zukunft auch gemeinsam gestalten.

Wenn es um die Strategie geht, sollten Business und IT (sowie alle anderen relevanten Parteien) gemeinsam am Tisch sitzen. Business startet mit seinen Ideen und Notwendigkeiten. IT spiegelt diese im Sinne von Lösungsoptionen und deren Vor- und Nachteilen. Das wiederum gibt dem Business neue Anregungen, weil ihnen einige der Optionen möglicherweise noch gar nicht geläufig waren, und sie entwickeln neue, verbesserte Ideen. 

Auf diese Weise entsteht ein Austausch, in dessen Verlauf man eine Strategie entwickeln kann, die die geschäftlichen Anforderungen optimal mit den sich stets verändernden Möglichkeiten durch den digitalen Wandel verbindet. Wenn dies gut gemacht wird, kann eine Strategie schneller, kostengünstiger und gleichzeitig wirkungsvoller umgesetzt werden, als wenn nur eine der beiden Parteien im Lead gewesen wäre.

Es ist also wie so häufig: Gemeinsam ist man am stärksten. Man muss es sich nur manchmal in Erinnerung rufen.


Über den Autor

Über den Autor

Uwe Friedrichsen ist CTO der codecentric AG. Seine aktuellen Schwerpunktgebiete sind Softwarearchitektur, Resilienz und die IT von (über)morgen. Er ist regelmäßiger Sprecher auf internationalen Konferenzen, Verfasser zahlreicher Fachartikel sowie Herausgeber von zwei IT-Fachzeitschriften.

 

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