„Neue Normalität“ – wirklich?
Lassen Sie sich vom Gerede von der „neuen Normalität“ nicht irritieren. Für die Arbeitswelt hat die Reise in die digitale Zukunft längst begonnen. Die Krise hat nur offenbart, was noch alles vor uns liegt – und was auf keinen Fall normal sein sollte.
Die Corona-Krise traf Firmen wie ein unangekündigter Kurztest, wie er der Schule so gefürchtet wird. Unternehmen, die schon in den vergangenen Jahren damit begonnen hatten, Homeoffice-Regelungen einzuführen, Arbeitsplätze zu mobilisieren und die Arbeitsweise der eigenen Mitarbeiter zu digitalisieren, konnten sich auf die Ausnahmesituation rasch einstellen, der Rest wurde kalt erwischt. Seitdem arbeiten viele unter Bedingungen, die sie sich vor drei Monaten nicht hätten vorstellen können – oder wollen. Zugleich wird viel von einer „Neuen Normalität“ gesprochen. Was genau soll daran normal sein, und für wen?
Ein Ausnahmezustand ist per Definition das Gegenteil von Normalität.
„Mitte März konnte man in der U-Bahn Menschen sehen, die mit ihrem Desktop-PC und Bildschirm unterm Arm nach Hause fuhren“, sagt Ben Laging, Personalmanager bei der New Work SE während eines (natürlich virtuellen) Roundtable-Gesprächs. Das Thema Homeoffice mag in den letzten Jahren auf der Prioritätsliste der Unternehmen nach oben gerückt sein, doch die meisten hatten sich etwas mehr Zeit geben wollen, um Regelungen zu treffen und die Mitarbeiter entsprechend auszustatten. Bei der letzten Erhebung des Branchenverbands Bitkom 2018 boten erst 39 Prozent der befragten Firmen Homeoffice als Option an.
„In-der-Cloud-Geborene“ haben es leichter
Unternehmen, die von Haus aus nur digitale Produkte anbieten, hatten es da einfacher. Sie gehören zu den Vorreitern in Sachen Digitalisierung der Arbeit und sind auch mit ihrer Infrastruktur ein Stück weiter. Das trifft sowohl für New Work als Betreiber des Business-Portals Xing zu, als auch für Workday, den Cloud-Anbieter für Personal- und Finanzmanagement und Veranstalter des Roundtable-Gesprächs. „Wir sind als Software-as-a-Service-Anbieter sozusagen in der Cloud geboren und verwenden intern auch nur Cloud-Software“, sagt Dr. Jens Krüger, CTO von Workday. „Als Nutzer ist mir dann egal, wo ich gerade meinen Laptop aufklappe.“
Traditionell aufgestellte Firmen haben es da schwerer. Cloud-basierte Anwendungslandschaften sind bei den meisten nur zum Teil implementiert. Meist betreiben sie ihre Anwendungen im eigenen Rechenzentrum und haben ein fest definiertes Firmennetzwerk, dessen Grenzen am Firmengebäude enden. Wer von außerhalb dieses Netzwerks auf Anwendungen zugreifen will, muss das in der Regel über VPN-Verbindungen und virtuelle Desktop-Infrastrukturen (VDI) tun, wie sie beispielsweise von Citrix angeboten werden. Diese Zugriffsmethoden sind aber weniger flexibel. „Ein CIO sagte mir neulich, dass er angesichts der Krise diese Art Fernzugriff für 40.000 Mitarbeiter hochskalieren konnte“, erzählt Krüger. „Das Problem ist nur, dass das Unternehmen 100.000 Mitarbeiter beschäftigt.“
Das Digital Mindset schafft Vertrauen
Auch Unternehmen, die mit der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse weiter sind, ist der Umgang mit der Krise leichter gefallen. Sie haben einfach mehr Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Arbeit. Bei New Work laufen beispielsweise nicht nur Kommunikation und Zusammenarbeit längst digital, sondern auch etliche personalbezogene Prozesse wie Speseneinreichungen oder Krankmeldungen. „Personalseitig sind lediglich Genehmigungsprozesse, die Unterschriften benötigen, noch nicht ganz digitalisiert, aber da sind wir bereits dran“, berichtet Ben Laging.
Das sogenannte Digital Mindset, sprich eine digital orientierte Firmenkultur, ist der dritte Faktor, der während der Krisensituation geholfen hat. „Einerseits geht es um Vertrauen, dass die Leute im Homeoffice auch ihrem Job nachgehen, aber auch um den richtigen Ton in der Kommunikation“, sagt Jens Krüger. „Klar ist auch, dass die Mitarbeiter eine andere Art der Unterstützung brauchen. Das permanente Homeoffice ist ein anderes Setup. Man muss auf die persönlichen Herausforderungen Rücksicht nehmen, mit denen jeder einzelne in einer solchen Situation bei sich zuhause konfrontiert ist.“
Was hätten wir vor zwei Jahren getan?
Dass solche Umstellungen nicht über Nacht passieren können, ist nachvollziehbar, schließlich sind die meisten traditionell aufgestellten Firmen bis dahin mit den vorhandenen Möglichkeiten ganz gut klargekommen. Man kann keinem Unternehmen einen Vorwurf daraus machen, wenn es sich mit einem Upgrade ihrer IT-Infrastruktur Zeit lässt, um mit der nötigen Sorgfalt an die Sache heranzugehen. Auch braucht es einige Zeit, bis ganze Belegschaften sich mit neuen digitalen Tools und Arbeitsmethoden vertraut gemacht haben. „Hätte uns die Krise vor zwei Jahren getroffen, würden wir anders dastehen“, sagt Laging.
„Die neuen digitalen Möglichkeiten wurden für die Agilität geschafften, nicht für die Krise.“ Dr. Jens Krüger, Workday
Genau an diesem Punkt stößt der Begriff „Neue Normalität“ denn auch an seine Grenzen, wenn er sich auf die aktuelle Situation in der Arbeitswelt bezieht. Was wir heute erleben, ist eben nicht irgendeine Form von Normalität, sondern ein Ausnahmezustand. Er stellt eine Unterbrechung in der Entwicklung einer digitalen Arbeitswelt dar, die schon vor langer Zeit begonnen hat. Nur sollte sie einen ganz anderen Zweck erfüllen. „Die neuen digitalen Möglichkeiten wurden nicht für die Krise geschaffen, sondern für die Agilität“, sagt Jens Krüger.
Die Krise als Digitalisierungstreiber
Wenn Agilität die Anpassungsfähigkeit auf sich verändernde Rahmenbedingungen bedeutet, hat sie sich auch für diesen Fall ausgezahlt, gedacht war sie aber für die radikalen Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung. Andererseits liefert die aktuelle Situation wichtige Erkenntnisse darüber, welche Gestaltungsmöglichkeiten stark digitalisierte Unternehmen haben und was getan werden kann, um dorthin zu kommen. Krüger sieht die Krise denn auch als Wendepunkt, der die Umstellung beschleunigt. „Digitalisierung heißt aber nicht einfach nur den Umstieg auf Software-as-a-Service, sondern die Digitalisierung ganzer Geschäftsprozesse und die Aufhebung von Medienbrüchen.“
„Spontan zum Whiteboard zu gehen und kreativ zu werden, das fehlt mir.“
Sowohl für Jens Krüger als auch für Ben Laging ist zudem klar, dass als nächstes eine Rückkehr zur altgewohnten Normalität ansteht, auch wenn sie die nächste Zeit sehr behutsam vonstatten gehen muss. „Wir sind gerade dabei, die Büros neu zu gestalten, sodass ein gewisser räumlicher Abstand gewahrt werden kann“, sagt Krüger. Ins Büro zurückgeholt werden sollen erstmal die Kollegen, die im Homeoffice nicht die besten Arbeitsbedingungen haben. Auf längere Sicht möchte aber auch er all die Dinge, die nur räumliche Nähe möglich macht, nicht missen. „Spontan mit einem Kollegen zum Whiteboard zu gehen und kreativ zu werden, das fehlt mir, und das kommt bestimmt auch wieder.“
Ziel sei eher, Homeoffice wieder zu dem zu machen, was es auch bisher war – eine Option. „Ich persönlich bin kein Homeoffice-Typ“, sagt Ben Laging. „Ich arbeite gerne mit den Kollegen im Büro zusammen. Es geht eher darum, grundsätzlich flexibel zu bleiben.“ Nur werde vieles, was dank der Krise vielen Arbeitenden jetzt vertraut wurde, schneller in den normalen Arbeitsalltag aufgenommen.“Wenn wir in einem Jahr wieder bei einem virtuellen Roundtable-Gespräch zusammensitzen, wird es sich wahrscheinlich viel selbstverständlicher anfühlen.“
Kommentar
Normal ist nur, was auch menschlich ist
Werbeslogans treffen manchmal den Zeitgeist so gut, dass sie ein Eigenleben gewinnen. Mit „Geiz ist geil“ wollte Saturn eigentlich nur mehr Fernseher und Stereoanlagen verkaufen. Daraus wurde das Motto einer ganzen Generation von Konsumenten, die alles guthießen, was dieser Logik entsprach. Nach derselben Logik wurden in den letzten Jahren auch Krankenhauskapazitäten abgebaut (zuletzt empfahl auch die Bertelsmann-Stiftung die Schließung von 800 Kliniken in Deutschland). Wohin das führen kann, konnte man gerade eben in Ländern wie Italien oder England sehen.
Während „Geiz ist geil“ wenigstens noch einen persönlichen Gewinn versprach, verlangt die „Neue Normalität“ hauptsächlich Verzicht. Auf die Arbeitswelt übertragen bedeutet das Verzicht auf die gewohnte Arbeitsumgebung, auf physischen Kontakt, echte Zusammenkünfte und die Art von persönlichen Gesprächen, die über Video eben nicht möglich sind. Alles Dinge, die wir als Menschen brauchen, um uns in unserer Arbeitsumgebung wohl zu fühlen.
„Neue Normalität“ trifft nur den Zeitgeist der Krise. Nur ist ein Ausnahmezustand das Gegenteil von Normalität, auch wenn er uns gerade als eine Art „Normalität der Zukunft“ verkauft wird. Als Teil dieser Arbeitswelt sollten wir deswegen beim Verzicht differenzieren zwischen dem Notwendigen und dem Verzichtbaren. Die Normalität der digitalen Arbeitswelt ist als Normalität der Möglichkeiten gedacht, nicht der Einschränkungen, der Distanz und des Unpersönlichen.