Digital barrierefrei – Der Countdown läuft

Menschen mit Behinderung stoßen immer noch tagtäglich auf Herausforderungen, wenn es darum geht, an Wissen aus dem Netz zu gelangen – auch in Zeiten von ChatGPT. Doch was muss gegeben sein, um das zu ändern und der neuen EU-Richtlinie zu entsprechen?

99 Prozent der Online-Shops in Deutschland sind von Menschen mit Behinderung kaum bis gar nicht nutzbar.

Der 28. Juni 2025 ist der Stichtag, an dem Organisationen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anbieten und gestalten müssen. So hat es der European Accessibility Act (kurz: EAA) festgelegt. Bekannt ist dieser Stichtag schon lange. Man könnte annehmen, dass sich unsere Wirtschaft darauf vorbereitet hat, um die Vorgaben zu erfüllen. Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild: 99 Prozent der Online-Shops in Deutschland sind von Menschen mit Behinderung kaum bis gar nicht nutzbar, so eine aktuelle Studie. Die Folgen sind fatal: Den Unternehmen kann das Aus für ihren Webauftritt drohen. Darüber hinaus entgeht ihnen mit ihren nicht-barrierefreien Online-Plattformen ein enormes Umsatzpotenzial in Milliardenhöhe. 

Digitale Barrierefreiheit als Menschenrecht

Schon mal vorneweg: Digitale Barrierefreiheit als Kernbestandteil von Inklusion nutzt allen. Denn Digitale Teilhabe ermöglicht es, jeden Menschen mit und ohne Behinderung, unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft miteinzuschließen. Dank unseres technologischen Fortschritts sollte das ja auch machbar sein. Digitale Tools wie KI-Chatbots wie ChatGPT sind vorerst nur eingeschränkt barrierefrei. Screenreader und andere unterstützende Technologien (z.B. Text-to-Speech-Software) können Texte zwar vorlesen; die Barrierefreiheit von solchen Tools hängt aber stark von der jeweiligen Implementierung und den genutzten Plattformen ab.

Doch was gilt als barrierefrei und was muss beachtet werden? Der internationale Standard zur barrierefreien Gestaltung von Webseiten (Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) (V2.1) vom World Wide Web Consortium (W3C) enthält 78 Kriterien, die auf die unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen ausgerichtet sind. Aus diesen lassen sich nutzerzentriert acht Kategorien bilden, die besonders für Menschen mit einer Seh- oder Höreinschränkung, kognitiven Beeinträchtigungen oder eingeschränkter Bewegungsfähigkeit bedeutungsvoll sind. Diese sind:

  1. Tastaturbedienbarkeit (WCAG 2.1.1)
  2. Beschriftungen, Labels oder Anweisungen (WCAG 3.3.2)
  3. Textgröße (WCAG 1.4.4)
  4. Textabstand (WCAG 1.4.12) und Textumbruch (WCAG 1.4.10)
  5. Untertitel für multimediale Inhalte (WCAG 1.2.2)
  6. Pausieren, beenden, ausblenden (WCAG 2.2.2)
  7. Überschriften und Beschriftungen (Labels) (WCAG 2.4.6)
  8. Name, Rolle, Wert (WCAG 4.1.2)  

Die Tastaturbedienbarkeit ist ebenso wie die Möglichkeit, Schriftgröße oder Textabstand zu ändern, besonders wichtig für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit, was auch viele ältere Menschen betrifft. Aber auch ein Farbkontrast für Benutzende mit Sehschwäche oder Farbenblindheit ist von entscheidender Bedeutung. Die Gestaltung von Benutzeroberflächen mit ausreichendem Farbkontrast verbessert die Lesbarkeit und Benutzerfreundlichkeit für alle AnwenderInnen. 

Wie geht es nun weiter? 

Schritt 1: Status quo ermitteln 

Ein Fahrplan, die Online-Präsenz umzugestalten, beinhaltet zuallererst das Testen der digitalen Barrierefreiheit der eigenen Webseite oder mobilen Anwendung. Es empfiehlt sich, Nutzende mit Beeinträchtigungen in den Prozess zu involvieren. Warum? Weil damit nicht nur Inklusion gefördert wird, sondern auch durch Betroffene getestet werden kann. Außerdem können so mögliche Lücken von automatisierten Tests identifiziert werden. Denn das Ziel ist, qualitativ hochwertige Ergebnisse für alle zu erreichen. 

Beim Test der eigenen Website sollte man Nutzende mit Beeinträchtigungen involvieren.

Zusätzlich ist es ratsam, sich professionelle Unterstützung von externen Fachleuten zu holen. Startet ein Unternehmen das Projekt „Barrierefreiheit“, empfiehlt es sich, zunächst mit einem Test der Hauptwebseite einzusteigen, bevor es sich mit den einzelnen Produktangeboten befasst. In der Praxis hat sich das Digital Accessibility Maturity Model (DAMM) bewährt, ein Arbeitsmodell, das den Reifegrad von Organisationen zur digitalen Barrierefreiheit ermittelt. Das Modell baut auf früheren Arbeiten des Business Disability Forums auf und ist in Übereinstimmung mit dem von der Carnegie Mellon Universität definierten Capability Maturity Model entwickelt worden.

Darüber hinaus bietet der Europäische Standard EN 301 549 Unternehmen einen Rahmen, der Vorgaben für die Bereitstellung von Informationen und Dokumenten von offline- und online-Anwendungen beinhaltet. Allerdings existiert noch kein dezidierter Konformitätsnachweis bzw. akkreditiertes Prüfzeichen, das auch offiziell digitale Barrierefreiheit der entsprechenden Webseite bestätigt. 

Schritt 2: Appell, Inklusion und digitale Teilhabe nachhaltig gestalten 

Um nachhaltig Erfolg zu haben ist es essenziell zu verstehen, dass Unternehmen Vorhaben rund um Inklusion nicht als ein „To Do“ sehen, dass erledigt und abgehakt werden kann. Vielmehr geht es um eine langfristige Auslegung der Unternehmensziele, diese auch nach Inklusions- und Diversitätsaspekten zu gestalten. Das gilt auch für den Bereich Digitale Barrierefreiheit. Denn digitale Angebote und entsprechende Produkte im Nachgang barrierefrei zu gestalten, ist wesentlich komplexer, umfangreicher und kostenintensiver als bereits in der Entwicklungsphase damit zu starten.

Beispiel: Fachverlag HJR bietet Informationen für alle

Wenn festgestellt wird, dass mehrere tausend Tabellen, die wichtige Informationen liefern sollen, nicht digital barrierefrei zugänglich sind, dann ist das ein großes Problem. So ging es dem juristischen Fachverlag HJR (Hüthig Jehle Rehm), der bei der Überprüfung der eigenen digitalen Barrierefreiheit der Online-Anwendungen unter anderem zu diesem Schluss kam. Denn der Verlag hilft seiner Kundschaft dabei, Tag für Tag rechtssichere Entscheidungen zu treffen und bietet Fachinformationen über sämtliche Medienformen hinweg. 

HJR entschied sich für die digitale Barrierefreiheit, auch wenn dies zusätzlichen Aufwand bedeutete.

Dazu zählen vor allem die digitale Produktplattform rehm eLine mit mehr als 120 Online-Lösungen, Loseblattwerke, Bücher sowie ein E-Learning- und Webinarangebot. Der Schwerpunkt des juristischen Angebots liegt im Bereich der öffentlichen Verwaltung mit den Themenfeldern Tarif- und Arbeitsrecht, Beamtenrecht, Gleichstellungsrecht, Haushaltsrecht, Personalvertretungsrecht, Verwaltungsrecht, Baurecht, Vergabe und Beschaffung. Unter der Prämisse, dass alle Menschen Zugang zu Informationen haben sollten, gibt es beispielsweise Bestimmungen, wie Tabellen technisch umgesetzt sein müssen, damit sie mittels Screenreader korrekt wiedergegeben werden können. Die Verlagsgruppe HJR (Hüthig Jehle Rehm) entschied sich aufgrund der Erkenntnisse der Überprüfung FÜR digitale Barrierefreiheit, auch wenn die nachträgliche Bearbeitung der Tabellen einen gewaltigen Aufwand für das Projektteam bedeutete. 

Die Umsetzung und Lösung der Herausforderung meisterte der Verlag mit einem professionellen Experten (in diesem Fall die Pfennigparade Business. Inklusiv.), die die Umstellung von Beginn an begleitete. Heute kann HJR einen Navigationsrahmen vorweisen, der sich vollständig barrierefrei bedienen lässt. Zusätzlich sind die Funktionen, wie zum Beispiel ‚Suche‘, ‚Verlaufsdarstellung‘, ‚Notizen‘ und ‚Favoriten anlegen‘ sowie die ‚Sammeldruckmöglichkeiten‘ mit assistiven Systemen bedienbar. Es gibt eine Kontrastversion, die Kriterien bei der Zoom-Funktionalität erfüllt. Die User brauchen keine Maus mehr, um mit rehm eLine zu arbeiten – der gesamte Auftritt wurde mit Tastaturbefehlen, sogenannten Access-Keys, ausgestattet. 

Jetzt Commitment zeigen und handeln 

Sobald Unternehmen eine erste Bestandsanalyse durchgeführt haben, ergeben sich Prioritäten für die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit. Das ist essenziell, denn digitale Teilhabe von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung muss zu jederzeit und von überall aus möglich sein. Voraussetzung ist, dass wir unseren technologischen Fortschritt nutzen. Auch wenn der 28. Juni also noch weit weg scheint: Je früher Unternehmen Commitment zeigen und eine entsprechende Strategie mit Fachleuten aufsetzen, umso besser für sie als Organisation. Umso besser auch für eine respektvolle, wertschätzende, inklusive Gesellschaft.


Über den Autor

Über den Autor

Michael Düren ist seit 2016 Leiter des Geschäftsfelds IT der Pfennigparade Business. Inklusiv. und verantwortet das Kompetenzzentrum „Digitale Teilhabe für Alle“. Als Accessibility Advocate fördert er Zugänglichkeit und Barrierefreiheit sowie den gesellschaftlichen Diskurs aktiv mit.

 

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